Was kostet die Welt
grauen Tag,
Vergolden, ja vergolden.«
Hier werden Weinproben für Kunden, Touristen und Gäste des Hauses abgehalten. Ich bekomme jetzt sozusagen eine private Vorführung. Judith zündet ein paar Kerzen an und löscht das groÃe Hauptlicht. Flo öffnet mit einem riesigen Korkenzieher ein paar Flaschen.
»Der Griff ist aus dem Holz einer Weinrebe gemacht«, sagt er.
»Oh. Wow«, sage ich.
Wein hier, Wein da. Wein, Wein, Wein. Ich bin froh, dass es nach all dem Gequatsche jetzt endlich auch mal was zu saufen gibt. Ein paar langstielige Gläser werden auf den Tisch befördert, auÃerdem ein Tablett mit Muttis Schnittchen und eins mit Speckbrot - »zum Neutralisieren des Geschmacks«, wie Flo mir erklärt. Wir probieren verschiedene Weine aus dem vorletzten Jahr.
»Man fängt in der Regel mit dem trockensten Wein an und hört mit dem süÃesten auf. Je trockener, desto mehr Alkohol. Ist ja klar«, sagt er und gieÃt die drei Gläser halb voll. »Dies ist ein 2007er Riesling Classic, der hat einen Alkoholgehalt von 11,5 Prozent, 9,1 Gramm Restzucker pro Liter und 5,8 Gramm Säure pro Liter.«
Nach dem Classic werden ein Hochgewächs, ein Kabinett, eine Auslese und eine Spätlese kredenzt. In dem Faltblatt auf dem Tisch lese ich nach, was Familie Arend zu den jeweiligen Tropfen anzumerken hat. Der eine ist »ein Geschenk Gottes«, der andere »ein Kulturgut besonderer Art«. Der nächste »drückt Lebensstil aus«. Nur welchen, das steht leider nicht dabei. Dann gibt es noch einen Wein »für die intensiven Momente des Tages«, was ja auch so einiges bedeuten kann. Vielleicht schmeckt er besonders gut, nachdem
man sich einen Schuss Heroin gesetzt oder seiner Frau mit der Axt den Kopf gespalten hat. Das sollen ja durchaus intensive Momente sein.
Aber was klingt wie eine Mischung aus Geheimsprache und Poesiealbumslyrik soll tatsächlich dabei helfen, den Wein zu beurteilen. Ich versuche es herauszuschmecken, das Feinherbe , das Fruchtige , das Harmonische , das Pikante , das EdelsüÃe und das Milde , das Kompakte und das Klare , das Süffige und das Geschmeidige , das Rassige und das Durchdringende , das Feinnervige und das Vielschichtige , das Druckvolle und das Raffinierte , das Pfiffige und das Vibrierende , den Apfel , die Pfirsicharomen , den Hauch von Kamille , den stark vegetabilen Duft nach Steinobst und Zitrusfrüchten , die zart wachsigen Anklänge , die ausbalancierte Reife , die enorme Dichte und Würze , die präsente Säure und die leicht mineralische Note am Gaumen . Aber es schmeckt alles ziemlich ähnlich, nach viel zu süÃem WeiÃwein mit viel zu viel Kohlensäure nämlich. AuÃerdem bin ich offenbar gar nichts mehr gewohnt, mir wird beim vierten Glas schon etwas schummrig.
Und das, obwohl Flo die Gläser meist gar nicht richtig vollmacht. Was mich vor ein kleines Problem stellt: Ich kann Gläser und Tassen nicht ganz austrinken. Ich lasse immer eine Pfütze zurück, weil der letzte Schluck so eklig ist, dieses Gefühl an den Lippen, wenn plötzlich nur noch Luft kommt - schon der Gedanke daran lässt mich erschaudern.
Ich bin bestimmt nicht der Einzige auf der Welt mit diesem Tick. Wie viele Flaschen und Gläser mit einer letzten Pfütze drin ich im Radetzky jeden Abend wegräume, das kann ja auch kein Zufall sein. Trotzdem ziehen Holger und Yolanda mich immer damit auf und bezeichnen mich als
»Neurosenzüchter«, auch wegen meinem Ekel vor Fünfeuroscheinen, Post-its und Glückskekszetteln.
Bei den Mini-Portiönchen, die Flo einschenkt, bleibt mir jedenfalls meist nur ein einziger Schluck. Also schenke ich mir einfach selbst nach. Wenn wir zum nächsten Wein übergehen, kippe ich den letzten Schluck in den Spucknapf, so einen Kübel aus Metall, der mich an die Tischmülleimer erinnert, die sie in Hotels manchmal haben. Flo und Judith machen es auch so, besonders Flo schnüffelt und schmatzt immer nur ewig lange an einem Schluck herum und kippt den Rest des Glases weg, wenn wir zum nächsten Wein übergehen. Da fällt meine kleine Macke gar nicht auf.
Flo schwärmt davon, dass Wein jedes Jahr anders schmeckt. Die Temperaturen, die Sonne, der Mond, der Regen, der Boden. Er benutzt Begriffe wie »Natürlichkeit« und »Authentizität«, er sagt, dass ein guter Wein eine »ehrliche Sache« sei, er redet von
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