Was kostet die Welt
richtig Fan von, fand ich richtig geil, und dieser Tonfall, weià nicht, finde ich einfach irgendwie kultig.«
Ich meine zu erkennen, wie Judith die Augen verdreht, aber sicher bin ich mir nicht. Allein die Vorstellung erschreckt mich aber schon, weil das Unangenehmste auf der Welt ist ja wohl, wenn einem jemand, den man liebt, vor Dritten peinlich ist.
Plötzlich beginnt sie leise zu summen. »Is this the real life? Is this just fantasy?«
Die ersten Zeilen von »Bohemian Rhapsody«. Das kennt sie? Ich hebe erstaunt die Augenbrauen und vollende die Strophe: »Caught in a landslide, no escape from reality.«
Sie lacht. Ich lache auch. Flo sieht uns irritiert an.
Es ist das erste Mal, dass ich Judith richtig lachen sehe, und es steht ihr gut. Ihre Wangen treten hervor und gruppieren sich um die kleine Knubbelnase. Ihre Augen sind braun, und sie hat einen leichten Silberblick, was mir noch gar nicht aufgefallen ist. Habe ich sie eigentlich schon mal richtig angeguckt, seit ich hier bin?
»Mein Vater ist groÃer Queen-Fan«, sagt sie, und da macht es auch bei Flo klick, was er damit zu erkennen gibt, dass er den Basslauf von »Under Pressure« anstimmt.
»Du-du-du-dudu-du-dut! Du-du-du-dudu-du-dut! Under pressure!«
Wie oft am Tag sie sich wohl für ihn schämt?
Wie hält sie nur das ewige Gequatsche aus?
Und wie reden die wohl miteinander, wenn sie zu zweit sind?
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»Und wie konntest du dir deine Reise dann leisten?«, fragt Judith in meine Richtung, bevor Flo die Chance kriegt, das Riff von »Another One Bites the Dust«, den Beat von »We Will Rock You« oder den Refrain von »We Are the Champions« hinterherzuschicken.
»Ich habe geerbt«, sage ich.
»Oh«, sagt Judith. »Vater oder Mutter? Ach, tut mir leid, geht mich ja gar nichts an.«
»Vater«, sage ich.
»Ich wollte nicht aufdringlich sein.«
»Schon okay.«
»Und wie lang ist das her?«
»Fast ein Jahr.«
»Und du hast alleine geerbt?«
»Nee, mit meiner Schwester.«
»Und deine Mutter?«
»Geschieden.«
»Verstehe.« Sie zupft ein Blatt vom Gebüsch und spielt damit in der Hand herum. »Und von deinem Erbe hast du die USA-Reise finanziert.«
»Ja. Und die Reisen davor auch.«
»Wie, wo warst du denn noch?«
»Ich war in Polen, Frankreich, Spanien, England, Skandinavien, Nordafrika und Israel. Und dann halt in den USA.«
»Wow!«, sagt Judith. Sie ist genauso neugierig wie gestern Abend im Weinkeller, doch diese Neugierde ist mir nicht mehr unangenehm. Flo dagegen ist auffallend still geworden. Als wäre er nur für Vorträge und Monologe gemacht, für Gespräche aber gänzlich ungeeignet. Seine Kommentare kann er sich trotzdem nicht verkneifen.
»Nicht nur MüÃiggänger und Bohemien, auch noch Weltenbummler!«
»Jetzt ist das Geld weg«, sage ich zu Judith, Flos Einwurf ignorierend, und füge im Kopf hinzu: na ja, zumindest fast.
»Alles fürs Reisen ausgegeben?«, fragt sie.
»Ja«, sage ich.
Sie faltet das Blatt in ihrer Hand und zerteilt es in mehrere Schnipsel.
»Darf ich fragen, woran er gestorben ist?«
»Krebs. Unter anderem.«
»Unter anderem?«
»Na ja, er war halt vorher schon länger krank.«
»Ja?«
»Ja.«
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Judith sieht mich erwartungsvoll an, als müsste da noch mehr kommen. Und ich überlege sogar kurz, noch mehr kommen zu lassen. Aber ich weià nicht, wie und wo ich beginnen soll. Ich müsste bei Adam und Eva anfangen.
Adam und Eva? Meine Güte, jetzt denke ich schon so, wie Flo spricht.
Ich klemme die leere Wasserflasche zwischen die Wand und das Geländer der Aussichtsplattform und zünde mir eine Zigarette an. Judith sitzt da mit ihren fragenden Augen. Ich räuspere mich. Sie wendet sich ab und sieht in die Ferne. Seufzt, wie Menschen in Filmen seufzen, wenn sie in die Ferne sehen. Wahrscheinlich hat sie das Gefühl, aufdringlich zu sein. Sie ist bei aller Neugierde zu wohlerzogen und höflich und diskret, um weiter nachzubohren. Obwohl sie gerne würde.
Flo trommelt auf seinen Knien und schleckt sich die Lippen. Judith knibbelt am Fingernagel ihres Daumens. Ich rauche. Nach jedem Zug tippe ich mit dem Zeigefinger gegen die Zigarette, bei jedem dritten oder vierten Mal regnen ein paar winzige Aschefitzel in die Schlucht unter uns.
Flo murmelt irgendwas über das Wetter.
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