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Was kostet die Welt

Titel: Was kostet die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nagel
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Dass es heute nochmal regnen wird, oder dass es heute auf keinen Fall nochmal regnen wird, was weiß ich.
    Â»Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.«
    Ich werfe ihm einen vernichtenden Blick zu. Er dreht den Kopf zur Seite, doch ich spüre, dass er meinen Blick spürt.
    Der alte kratzige Mantel des Schweigens legt sich wieder über uns. Ich würde gerne reden. Nach dieser sprachlosen Woche mal wieder etwas loswerden. Nur die paar Brocken gerade taten schon gut. Aber ich habe zu lange nachgedacht. Jetzt ist es zu spät. Jetzt finde ich keinen Anfang mehr.

    Ich hätte einfach weiterreden sollen. Einfach weiterreden.
    Ist im Grunde ja alles ganz einfach.
    Â 
    Er war schon immer sehr gebrechlich. Chronische Arthritis, Gelenkschmerzen, Deformierungen. Hat sein Leben lang starke Schmerzmittel genommen. Sehr schlechte Blutwerte. Mit Mitte vierzig Diabetes.
    Durch die jahrelang eingenommenen Schmerzmittel bekam er erst ein Magengeschwür, dann eine Leberzirrhose. Ständiges Unwohlsein. Ständiges Fieber. Ständiger Durchfall. Ständige Schmerzen.
    Die letzten Jahre ging es richtig bergab. Erst degenerative Meniskusläsionen, also kaputte Knie, dann der Bandscheibenvorfall. Ab da war er Frührentner. Nichts mehr mit Fliesenlegen. Schön kaputtgearbeitet, die Knie, den Rücken, den ganzen Körper.
    Ein ständiges Kribbeln in den Beinen und Füßen. Durchblutungsstörungen. Hat seine Zehen nicht mehr richtig gespürt.
    Er ist von Arzt zu Arzt getingelt, von Krankenhaus zu Krankenhaus. Neukölln, Lichtenberg, das Rückenzentrum in Mitte. Immer die Hoffnung: Dieses eine Mal noch, nur noch eine OP, dann wird’s sicher besser. Aber es wurde nie besser. Im Gegenteil.
    Zur Therapie gehörte viel Bewegung. Krankengymnastik und so. Aber Bewegung war nicht sein Ding, und sagen lassen hat er sich sowieso nichts.
    Man konnte seine Gebrechen jetzt sehen. Der Bauch war übersät mit blauen Flecken von den Insulin- und Thrombosespritzen. Er bekam Abszesse in den Achselhöhlen und an den Beinen. Große rote Flächen mit eitrigen Wülsten in der Mitte. Er hat versucht, sie zu verstecken. Hat sich geschämt. Auch für die hautfarbenen Kompressionsstrümpfe, die er nie angezogen hat, obwohl mehrere Ärzte ihm sagten, wie wichtig das sei.

    Dann begannen die Lähmungserscheinungen. Er konnte kaum noch Auto fahren. Hat es aber trotzdem immer wieder getan. Aufs Autofahren zu verzichten wäre ja ein Eingeständnis der Schwäche gewesen. Ist unter Schmerzen in seinen Benz einund ausgestiegen, nur um ihn zur Waschanlage zu fahren und den blitzblanken Wagen danach wieder vor der Garage zu parken. Die Nachbarn und so.
    Den Tumor haben sie nur durch Zufall entdeckt. Ein Leberkarzinom. Operation. Er hatte Nachblutungen. Schmerzen, die ihn schreien ließen. Morphinpflaster für Notfälle. Die Notfälle wurden häufiger, das Pflaster die Regel. Er war ständig bedröhnt vom Morphium, anders ließ es sich nicht aushalten. Erste Zeichen von Inkontinenz. Er bekam einen Dauerkatheter, damit er nicht ständig ins Bett machte.
    Der Tumor konnte nicht komplett entfernt werden. Also Chemotherapie. Sein Körper war aber nicht mehr in der Lage, die Therapie durchzustehen. Die Haare konnten gar nicht so schnell ausfallen, wie er in sich zusammenschrumpfte. Er konnte nicht mehr richtig urinieren. Wurde immer dünner.
    Gleichzeitig begann er aufzuquellen. Seine Organe waren durch den jahrzehntelangen Medikamentenkonsum so angegriffen, dass sie ihren Dienst versagten. Leber und Nieren streikten. Das Wasser lagerte sich im Körper ab, in den Füßen und den Unterschenkeln, dann auch im Rücken und im Bauch. Mehrmals mussten sie es ihm abpumpen. Als der Bauch aufquoll wie ein Luftballon und die Wassertabletten nicht mehr halfen, stachen sie ihm eine große Kanüle in den Bauch. Schräg unterm Bauchnabel. An der Kanüle war ein Schlauch, durch den das Wasser in einen Behälter floss. Eine gelbliche Brühe. Das wurde mehrmals gemacht. Einmal kamen da sechs Liter Wasser raus.
    Sechs Liter.

    Eigentlich nur noch Kosmetik. Symptome bekämpfen.
    Dann hat sich die Wunde entzündet. Das Wasser wurde rötlich. Innere Blutungen. Eine Nierenzyste. Eine Bauchspeicheldrüsenentzündung. Der ganze Körper eine einzige Entzündung.
    Geschwollen, geknechtet, gezeichnet.
    Fieber und Schwäche, erbärmlich stinkender Durchfall, Schmerzen

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