Was kostet die Welt
Erzgebirge, als meine Mutter und Silvia vorne saÃen und sich unterhielten. Sie kamen mir immer gleichaltrig vor. Was natürlich daran lag, dass Silvia so viel älter ist als ich. Sieben Jahre, das ist ein ziemlicher Unterschied. Ich wurde geboren, da war sie schon in der Schule. Ich kam in die Schule, sie in die Pubertät. Ich kam in die Pubertät, sie zog zu Hause aus. Ich zog zu Hause aus, sie hatte die wilden Jahre schon hinter sich.
Ich werde nie den Tag im letzten Herbst vergessen, als ich bei ihr war, um irgendwelche Papiere wegen des Hausverkaufs
zu unterschreiben. Plötzlich sagte Silvia völlig aus dem Zusammenhang: »Bald werde ich fünfunddreiÃig, ab dann bin ich näher an der fünfzig als an der zwanzig.«
Sie lachte. Ich lachte auch. Aber nur, um sie nicht zu demütigen, in Wahrheit gefror mir bei diesem so lapidar geäuÃerten Sprengsatz das Blut in den Adern, und meine Schultern ⦠es ist ja wohl klar, was mit denen passierte.
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Das Prasseln des Regens lässt etwas nach, als wir so was wie einen natürlichen Tunnel durchfahren. Die dicht an der Fahrbahn stehenden Bäume verzweigen sich über uns zu einem mächtigen grünen Dach.
»Da vorne hatten wir mal einen Unfall, auf der anderen StraÃenseite, nachts auf dem Heimweg von einem Konzert in Wiesbaden. WeiÃt du noch, Juju?«, sagt Flo.
»Als uns der Jeep hinten draufgefahren ist«, sagt Juju .
»Ein Ami war das. Kannte sich mit den Kurven hier wohl nicht aus. Ist aber nichts passiert, nur ein kleiner Schaden an meinem Wagen. Tausend Mark. Oder waren das schon Euro?«
»Ich glaube, das waren noch D-Mark«, sagt Judith.
O Mann, wenn der Schaden des Unfalls noch in D-Mark bemessen werden kann, müssen die beiden seit mindestens acht Jahren zusammen sein!
»Wo habt ihr euch denn kennengelernt?«
»In der Schule. In der Elften sind wir in eine Klasse gekommen. Aber richtig gefunkt hatâs erst in den Sommerferien darauf, da haben wir beide bei Moselglas gearbeitet. Flaschenspülen, für acht Mark die Stunde.« Flo guckt Judith ganz verliebt an. »Ende des Jahres haben wir Zehnjähriges, was, Spatz?«
Judith nickt.
Zehn Jahre.
Als meine Eltern zehn Jahre zusammen waren, hatten sie schon ihre zwei Kinder. Und jede Menge Hass in den Gedärmen. Mein persönlicher Rekord liegt bei zweieinhalb Jahren. Damals mit Sophie. Wir haben uns in der Zeit beide nichts geschenkt. AuÃerdem haben wir uns ungefähr alle drei Wochen getrennt, zumindest für ein paar Stunden.
Zehn Jahre. Verrückt.
»Gleich sind wir oben«, sagt Flo.
Wir verlassen den grünen Tunnel und biegen kurz darauf auf die B 327 ab.
»Die HunsrückhöhenstraÃe. Das ist jetzt nicht mehr Mosel, sondern Hunsrück. Da muss man aufpassen. Hunsrücker lassen sich ungern als Moselaner bezeichnen, und umgekehrt! Behüte mich vor Sturm und Wind und Männern, die vom Hunsrück sind. Sagt mein Alter immer.«
Ich gähne und lehne mich zurück. Der Golf rauscht über die nasse StraÃe, vorbei an Windrädern, Hochsitzen und Schildern, die vor kreuzenden Rehen warnen.
Der Regen prasselt jetzt wieder lautstark und monoton aufs Dach. Ich kann nicht mehr hören, was sie vorne reden, und bin kurz davor einzuschlafen, als der Wagen plötzlich vor einer Schranke stoppt.
»Das ist der Flughafen Frankfurt-Hahn«, sagt Flo. Während ich mich noch wundere, dass Frankfurt so nahe an der Mosel liegt, erklärt mir Flo auch schon, dass dieser Flughafen hundert Kilometer von Frankfurt entfernt ist, sich aber trotz einer Klage immer noch »Frankfurt-Hahn« nennen darf. Er geht wieder ganz in seiner Rolle als Fremdenführer auf. Sobald es Wissen zu vermitteln gibt, ist es, als hätte jemand an seinem Hinterkopf einen Schalter umgelegt. Vielleicht hätte er doch Lehrer werden sollen.
»Bis Anfang der neunziger Jahre war das ein reiner US-Militärflughafen. Seit dem Abzug der Amerikaner wird er hauptsächlich als Frachtflughafen genutzt und dabei kontinuierlich ausgebaut. Ryan Air ist auch hier. Soâne Billigfluglinie, kennst du sicher.«
»Ja«, sage ich.
»Der Flughafen ist mittlerweile einer der gröÃten Arbeitgeber hier. Unter dem Abzug der Amis leidet die Region aber immer noch. Auch wir an der Mosel. Allein die Weinfeste. Verglichen mit früher sind die nur noch ein Schatten ihrer selbst, so von den Besucherzahlen
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