Was kostet die Welt
Pausen zwischen den Atemzügen. Irgendwann kam kein nächster Atemzug mehr.
Mir fiel der Wecker auf, der auf der Fensterbank stand. Ein altmodischer runder Wecker, wie er unter dem Begriff »Wecker«
im Lexikon zu finden sein müsste, mit Zeigern so dick wie Zigarren. Sein Ticken war das lauteste Geräusch, das ich jemals gehört habe.
Ich starrte den Wecker an, meine Tante starrte meinen Vater an, mein Vater starrte die Decke an.
Er war nicht mal sechsundsechzig Jahre alt geworden.
Tante Helena fing sofort an, ihren toten Bruder zu fotografieren. Heulend kniete sie vor seinem Bett und machte Nahaufnahmen von der erstarrten Fratze.
Ich wollte auch irgendwas tun, also versuchte ich, seine Augenlider zu schlieÃen. Im Film sieht das immer so einfach aus, aber sie gaben nicht nach. Ich zuckte zurück, als hätte ich eine heiÃe Herdplatte angefasst, und wischte meine Finger an der Hose ab. Meine Tante sah mich entgeistert an. Ich schämte mich, aber ich konnte es nicht ändern, sie fühlten sich besudelt an.
Sofort wurden groÃe Worte in die Runde geschmissen: Erlösung von den Schmerzen, Ende der Qual, Sieg über die Krankheit. Ich nehme an, so was soll beim Trauern helfen.
Aber ein Sieg, der mit dem Tod bezahlt werden muss?
Der Tod ist nichts Würdevolles, sondern etwas Fieses und Erbärmliches. Mein Vater ist nicht sanft entschlafen. Er ist elendig verreckt, nach einem Leben voller Verbitterung, Schmerz und Sprachlosigkeit.
Das erniedrigende Ende einer verkorksten Existenz.
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Es gab kein Testament. Wir haben jedenfalls keins gefunden und auch nie darüber geredet. Also wurden Silvia und ich automatisch als Erben eingesetzt.
Viel gab es sowieso nicht aufzuteilen. Ich wollte von dem ganzen Kram aus dem Haus nichts haben. Die Klamotten, die Möbel, das Geschirr, bloà weg damit, weg weg weg. Manches konnte ich nicht mal anfassen. Seinen Ehering zum Beispiel.
Meine Schwester fand ihn in einem Schuhkarton, neben Stiften, Radiergummis und anderem Zeug. »Ursula« war darin eingraviert, und das Hochzeitsdatum. 23. 06. 1975. Ziemlich genau vier Monate vor Silvias Geburt.
Ob sie ein Unfall war?
Die Heirat eine Notlösung?
Und wenn man darüber nachdenkt, könnte man zu dem Schluss kommen, dass ich in der Hassphase gezeugt wurde.
Kann man aber auch einfach sein lassen. Ãndert ja eh nichts.
Ich schlug vor, eine Entrümpelungsfirma anzurufen und den ganzen Krempel abtransportieren zu lassen. Silvia hielt mich für verrückt. Also lieà ich sie das Haus entrümpeln. Dafür durfte sie behalten, was sie wollte. Ich hab nur den alten Haack-Weltatlas mitgenommen. Der war auch gar nicht seiner, der gehörte der ganzen Familie. Einer der Gegenstände, wegen denen die Scheidung meiner Eltern sechs Jahre gedauert hat.
Sechs Jahre, das muss man sich mal vorstellen. Wie viel Geld dabei draufgegangen ist, wie viel Zeit, wie viel Energie. Man müsste laut drüber lachen, wenn es nicht so traurig wäre.
Sie haben sich durch die Instanzen geklagt. Erst vorm Amtsgericht, dann vorm Kammergericht, und wenn es nach ihm gegangen wäre, hätten sie am Bundesgerichtshof weitergemacht.
Es ging um Unterhaltszahlungen, um die Hausratsaufteilung, um das Umgangsrecht. Er unterstellte meiner Mutter »häufig wechselnde Männerbekanntschaften«, die nicht gut für uns Kinder seien. Sie stritten um Fotoalben, um das gute Meissener Porzellan, und natürlich um das Haus.
Ich weià nicht, warum sie die Hütte überhaupt noch gekauft haben. Sie hätten auch einfach weiter Miete zahlen können, aber sie wollten unbedingt was Eigenes. Also haben sie die Ersparnisse zusammengeschmissen, das Schwarzgeld von meinem
Vater, ein kleines Erbe, das meine Mutter von einer Tante bekommen hatte, haben Hypotheken aufgenommen und in einer überstürzten Aktion das Haus gekauft, in dem wir sowieso schon wohnten, zu einem Zeitpunkt, als die Stimmung in der Familie schon sehr schlecht war. Was für eine Fehlinvestition. Ohne diesen unseligen Besitz wäre die Scheidung vermutlich wesentlich schneller und schmerzloser über die Bühne gegangen.
Meine Mutter wollte das Haus gar nicht, sie wollte nur ihren gerechten Anteil. Den gerechten Anteil bestimmt ein Gutachter. Aus Sicht meines Vaters waren die Gutachter aber entweder inkompetent oder gekauft. Vor dem Gericht behauptete er, der »sogenannte Sachverständige« habe »kein
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