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Was kostet die Welt

Titel: Was kostet die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nagel
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und Verwirrung.
    Er ist mitten im Satz eingeschlafen. Hat alles verwechselt, immer wieder dieselben Fragen gestellt. In den Mundwinkeln hing getrocknete Spucke, und man wusste nicht, ob man ihn darauf aufmerksam machen sollte oder nicht.
    Würde geht anders.
    Er konnte nicht mehr alleine aufs Klo gehen. Jede Bewegung eine immense Anstrengung. Trotzdem immer wieder der Satz: »Das wird bald wieder.«
    Dass irgendwas wieder wird, nachdem die Organe den Dienst einstellen, ist ziemlich unwahrscheinlich. Das weiß jeder. Das wusste auch mein Vater. Aber er hat bis zum Ende die Fassade aufrechterhalten. Es war nicht Optimismus, sondern Angst. Angst vor dem Einsturz des Kartenhauses, zu dem er sein Leben gemacht hatte.
    Ich habe ihn mal in der Charité besucht. Als er aus seinem Bett aufstehen wollte, schrie er vor Schmerzen, obwohl er voll auf Morphium war. Ich fragte ihn, ob ich Hilfe holen soll.
    Â»Nein, es geht mir gut«, sagte er. Er hielt das wahrscheinlich für Tapferkeit. Gescherzt hat er auch. Über das Krankenhausessen zum Beispiel.
    Â»Kochen können die hier wohl«, krächzte er heiser, »nur essen kann das keiner.«
    Ich versuchte zu lachen. Mir war eher nach Heulen zumute.
Man konnte ihm beim Sterben zusehen. Allerdings hatte niemand so schnell damit gerechnet. Von der Krebsdiagnose bis zum Tod vergingen keine drei Monate.
    Die letzten Wochen verbrachte er bei seiner Schwester und ihrem Mann in Jena. Sie hatten ihn immer mal wieder beherbergt, weil er sich seit der Tumor-OP kaum noch bewegen konnte. Zuletzt wurde er ein richtiger Pflegefall.
    Tante Helena hatte zu Ostzeiten eine Apotheke geleitet. Weil sie aber nie studiert hatte, wurde ihr nach der Wende ein Zugezogener aus dem Westen als Chef vor die Nase gesetzt. So war sie nur noch Angestellte in ihrer eigenen Apotheke. Das hat sie nie verkraftet.
    Meinen Vater zu pflegen war für sie so was wie eine späte Wiedergutmachung ihrer beruflichen Degradierung. Sie umsorgte ihn wie eine Mutter ihr Kind, war Ärztin, Apothekerin und Psychologin in einem.
    Sie nahm es Silvia und mir trotzdem immer übel, dass wir uns zu wenig um ihn kümmerten. Es äußerte sich in kleinen Spitzen. »Wahrscheinlich wisst ihr das gar nicht, aber er würde sich ja so über einen portablen DVD-Player mit Bildschirm freuen.« Also haben wir ihm einen portablen DVD-Player mit Bildschirm besorgt.
    Uns hätte er nie danach gefragt. Er wollte nie irgendwelche Hilfe. Das wäre ein Eingeständnis von Schwäche gewesen. Über nichts wurde geredet, schon gar nicht über Schwäche, Krankheit oder Tod.
    Â 
    Der Anruf von Silvia kam morgens um sechs. Ich setzte mich gleich in den Zug nach Jena. Er lag im Wohnzimmer und war nicht mehr ansprechbar, als ich um kurz vor zehn eintraf. Ein provisorisches Lager. Ein Krankenzimmer, das zum Sterbezimmer wurde.

    Silvia meinte, sie hätte frühmorgens noch ein paar Wortfetzen verstanden. Namen, darunter meinen. Den ganzen Tag verbrachten wir an seinem Bett. Er versuchte ein paarmal, etwas zu sagen, aber ich konnte ihn nicht verstehen.
    Seine Augen waren weit geöffnet. Sie waren ganz ausgetrocknet, blinzelten nicht mal mehr. Das Weiße verfärbte sich erst gelb, dann grün. Er musste schon seit Stunden blind gewesen sein. Die Ohrläppchen waren blau, die Füße auch. Ein schmutziges Graublau, das Blut gelangte nicht mehr dorthin. Abgestorben, angeblich schon seit Tagen. Das Gesicht von den Schmerzen zu einer irren Grimasse verzerrt.
    Wir wechselten uns an seinem Bett ab, befeuchteten seine Lippen mit einem Waschlappen, sprachen mit ihm, lasen ihm aus der Zeitung vor, saßen einfach nur da.
    Ich war bis drei Uhr im Radetzky gewesen, hatte kaum geschlafen und nicht geduscht. Als ich ankam, war mir das unangenehm, doch der Geruch in dem Zimmer überlagerte alles. Ein abscheulicher Gestank von Medizin, Salbe und lauerndem Tod, man konnte ihn auf der Zunge schmecken.
    Ich hoffe, dass ich diesen Geruch eines Tages vergessen kann.
    Am Nachmittag legte ich mich kurz aufs Sofa im Gästezimmer. Als ich eine Stunde später wieder aufwachte, ging ich ins Wohnzimmer.
    Tante Helena stand vor seinem Bett. Ich weiß noch, dass sie eine grüne Bluse anhatte und eine klobige Brosche um den Hals. Sie flüsterte meinen Namen, ohne mich anzusehen. Ich ging zu ihr rüber.
    Â»Tobias«, sagte sie. »Tobias, es geht zu Ende.«
    Sie hatte Recht. Es gab immer längere

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