Was Liebe ist
feucht, aber es hat aufgehört zu regnen.
Als er sich einmal umdreht, sieht er, dass er nicht allein ist hier draußen. Er bleibt stehen, wartet, bis sie ihn erreicht. Dann stehen sie sich gegenüber und sehen sich schweigend an. Als sie das letzte Mal – sieht man von den Geschehnissen im Krankenhaus ab – voreinander standen, war sie größer als er und musste sich hinknien, um ihn zu umarmen. In seiner Erinnerung war sie immer groß. Jetzt frappiert es ihn, wie klein sie ist.
Sollten sie sich nicht auch jetzt umarmen? Dreißig Jahre lang haben sie sich nicht gesehen. Jahrelang hat er darunter gelitten, dass sie nicht da war. Jahrelang hat er nicht gewusst (er weiß es bis heute nicht), ob er sie lieben oder hassen soll. Sie umarmen sich nicht.
»Ich bin Epileptiker wie Zoe«, sagt er schließlich.
»Es gab in meiner Familie Fälle von Epilepsie«, sagt sie leise und tonlos. »Aber es wurde nicht darüber geredet. Dein Vater wusste nichts davon.«
»Also ist Zoe deine leibliche Tochter.«
Sie dreht sich zum Meer und sagt: »Ich kann das alles noch nicht begreifen.«
»Und mein Vater … ist er auch …?«
Sie braucht lange für die kurze Antwort: »Ja.«
Es ändert kaum noch etwas. Die Hoffnung, Zoe könnte adoptiert sein, hat er eigentlich nicht gehabt. Und was spielt es noch für eine Rolle, ob sie seine Schwester ist oder seine Halbschwester?
Seine Mutter legt die Hände vors Gesicht und flüstert fassungslos: »Wieso bist du von allen Frauen in Berlin ausgerechnet Zoe begegnet.«
»Warum … wieso …«
Sie atmet tief ein. Dann setzt sie sich mit einem inneren Impuls in Bewegung. Mit dem gleichen inneren Impuls hat sie ihn verlassen. Er erinnert sich wieder an diesen Moment.
Sie sagt: »Wo habt ihr euch kennengelernt?«
»Ich war für Verhandlungen über die Entschädigung von NS-Zwangsarbeitern in Berlin und habe mir vorher unseren ehemaligen Firmensitz angesehen. Zoe saß in einem Café auf der anderen Straßenseite.« In diesem Moment wird ihm klar, dass mehr dahinterstecken muss als der bloße Zufall. Wieso saß sie ausgerechnet dort – mit Blick auf den Sitz der Firma ihres Großvaters, von dem sie nichts wusste, den sie nie kennengelernt hat? Er sagt: »Gibt es dafür eine Erklärung?«
Der Wind trägt Vogelgeschrei heran und kleine leichte Regentropfen. Schließlich sagt sie: »Ich habe deinen Vater 1962 geheiratet, und es ging uns sehr gut. Wir und alle, die wir kannten, hatten Geld. Wir bauten Häuser und fuhren Ski in Davos. Aber unter der Oberfläche gab es etwas, das wir nicht gesehen haben oder sehen wollten: die Vergangenheit. Dabei war der Krieg noch keine zwanzig Jahre her.« Sie macht eine Pause, in der wieder nur das Rauschen des Meeres und dasGeschrei der Möwen zu hören ist. »Dann veränderte sich das gesellschaftliche Klima. Immer mehr verlangten Aufklärung über das, was geschehen war, über die Konzentrationslager und Gaskammern. Ich war eigentlich nicht politisch, aber als ich allmählich begriff, dass es auch in der Familie, in die ich hineingeheiratet hatte, eine Verstrickung in den Nationalsozialismus gab, fing ich an, Fragen zu stellen.«
»Kanntest du die Firmengeschichte denn?«
»Zuerst nicht. Neunundsechzig bin ich nach Berlin gefahren und habe mehrere Wochen im Betriebsarchiv zugebracht. Ich war schockiert und empört. Ich konnte das alles nicht fassen. Ich habe von deinem Vater verlangt, dass er irgendetwas unternimmt. Dass er das Archiv veröffentlicht. Dass er irgendein Zeichen der Reue oder der Wiedergutmachung setzt. Aber da war nichts zu machen, und auf einmal war alles, was ich je für ihn empfunden hatte, in mir abgestorben.«
Ihre Geschichte gefällt ihm nicht. Er findet sie egozentrisch. Er sagt: »Und was war mit mir? Was hast du für mich empfunden? War das auch abgestorben? Was hatte ich mit alldem zu tun? Eine Umarmung, ein paar Tränen – und dann konntest du so mir nichts dir nichts aus meinem Leben verschwinden?«
Sie bleibt stehen und sucht nach einer versöhnlichen Geste. Er ist an keiner interessiert.
»Es hat mir so unendlich leid getan.«
»Du hättest bleiben und kämpfen können. Du hättest mich mitnehmen können.«
»So einfach war das nicht«, sagt sie. »Wer weiß, ob ichüberhaupt das Sorgerecht bekommen hätte, es waren ganz andere Zeiten damals. Keine Zeiten für geschiedene alleinstehende Frauen.« Sie bleibt stehen. »Und außerdem war ich schwanger.«
Daran hat er nicht gedacht. Zoe ist Jahrgang 1970. Aber
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