Was Liebe ist
Entzugs-Trips, und dagegen würde ich nicht ankommen – das wusste ich. Als ich Sie beide in unserer Wohnung angetroffen habe, war mir gleich klar, was geschehen würde. Dass Sie genau der Mann waren, der in Zoe wieder einmal die Sehnsucht nach einem Leben ohne Medikamente wecken würde.«
»Vielleicht ja auch nach einem Leben ohne Sie. Vielleicht überhaupt nach Leben.«
Piet lässt sich nicht provozieren. Er weiß, dass Zoe ohne ihre Medikamente nicht leben kann, und das heißt für ihn vermutlich, dass sie keine andere Wahl hat, als zu ihm zurückzukehren. Ihre Beziehung ist eine Art Symbiose. Piet kümmert sich um sie. Vielleicht gebührt ihm dafür ja tatsächlich ein gewisser Respekt.
Aber er ist nicht in der Stimmung, sich Piet gegenüber versöhnlich zu zeigen, und sagt: »Und diese Show auf dem Rastplatz? War das auch ein Teil Ihres großartigen Plans, Zoe zur Vernunft zu bringen?«
»Sie haben recht«, sagt Piet mit einem angedeuteten,nachdenklichen Nicken. »Das war keine Glanzleistung. Man hatte mir im Hotel gesagt, dass Sie einen Leihwagen fahren und wahrscheinlich auf dem Kloveniersburgwal parken würden. Ich habe es nicht fertiggebracht, Zoe und Sie einfach davonfahren zu lassen. Mit einer jungen Frau wird einem die Eifersucht ab einem gewissen Alter zur Gewohnheit.«
Die Überfahrt von Vlissingen nach Breskens dauert etwa zwanzig Minuten. Über Lautsprecher werden die Passagiere aufgefordert, zu ihren Fahrzeugen zurückzukehren. Er ist froh, seinen eigenen Wagen zu haben und nicht zu Piet und Zoes Mutter ins Auto steigen zu müssen.
Er denkt über Piets Worte nach. Was kommt ab einem gewissen Alter außer Eifersucht sonst noch auf einen zu? Er steht mit seinen sechsunddreißig Jahren irgendwo in der Mitte zwischen jung und alt. Dass er zwanzig war, ist lange her, aber von Piet fühlt er sich zeitlich noch ebenso weit entfernt. Vielleicht ist er jetzt das, was man einen Mann in den besten Jahren nennt. Was kommt nach dem Besten? Ab wann beginnt der Abstieg? Schon ab vierzig? Ab fünfundvierzig? Ab fünfzig?
Er hat wohl noch eine solide Frist. Aber was wird er mit dieser anfangen? Wie soll es weitergehen, jetzt, da klar ist, dass es für ihn mit Zoe keine Zukunft gibt? Er wird nach Frankfurt zurückkehren und weiter seine Arbeit machen – was sonst. Aber es wird anders sein. Er wird immer wissen, dass ihm etwas fehlt. Und er wird wissen, dass er es nicht mehr bekommen kann.
Vielleicht ist der Beginn des Abstiegs keine Frage des Alters, sondern eine Frage des Bewusstseins. Eine Frage desGlaubens an eine Erfüllung, die in der Zukunft liegt. Und wenn man den Glauben daran aufgegeben hat, wenn sich das Gefühl einstellt, dass das, was man hat, alles ist, was man bekommen wird, dann beginnt der lange Abstieg – wohin auch immer. Ins Nichts – wie er glaubt. Seine Anfälle lassen ihm in dem Punkt eigentlich keine Wahl.
Sie fahren vorbei an abgeernteten Feldern, durch die sich lange Entwässerungskanäle bis zu den vagen Dünen am Horizont ziehen. Von hinten kann er nicht erkennen, ob Piet und Zoes Mutter sich unterhalten oder ob sie die Landschaft schweigend an sich vorüberziehen lassen wie er.
Vermutlich ist es so. Zoes Mutter steht unter der Wirkung eines Beruhigungsmittels, das sie im Krankenhaus freiwillig eingenommen hat. Nach der Entscheidung des behandelnden Neurologen, Zoe für weitere zwölf Stunden unter Narkose zu belassen, und seiner Versicherung, dass es bis dahin weder etwas gebe, was man für sie tun könne, noch die akute Gefahr bestehe, dass sich ihr Zustand verschlechtere, willigte sie schließlich ein, sich nach Hause bringen zu lassen, um sich dort auszuruhen.
Das Haus, vor dem sie nach einer Viertelstunde halten, ist aus hellem Backstein und liegt hinter einer immergrünen Lorbeerhecke, die dringend geschnitten werden müsste. Er bringt den Wagen zwischen der Hecke und einem weißgetünchten Nebenbau zum Stehen. Er schaltet den Motor ab, lehnt sich zurück und schließt die Augen.
Als er erwacht, ist es Mittag. Er hat traumlos geschlafen – und offenbar auch bewegungslos. Er muss in seinem Sitz regelrecht in Ohnmacht gefallen sein. Sein Nacken und seineHüften sind steif von der unbequemen Haltung. Er steigt aus, um sich zu bewegen.
Ohne darüber nachzudenken, geht er los. Die Dünen sind dicht bewachsen, ein Gewirr aus ineinandergreifenden grauen stacheligen Zweigen. Auf der Seeseite gehen sie in ein weites Delta aus Sand und flachem Wasser über. Der Sand ist
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