Was Liebe ist
Epileptikerin zusammen zu sein. Das wird reichen, um ihre Gefühle für mich ins Gegenteil zu verkehren. Sie wird mich nicht wiedersehen wollen.«
Sie kommt zur Couch und setzt sich neben ihn. Ihre Nähe ist ihm nicht angenehm. Was will sie überhaupt? Sie sagt: »Was ist mit uns? Sollten wir uns nicht Zeit nehmen, um uns …«, sie zögert, »… kennenzulernen.«
Er steht auf. Er ist unruhig, hat das Gefühl, sich bewegen zu müssen. Es ist zu viel geschehen, um friedlich nebeneinander sitzend zu reden. Es gibt Dinge, über die kann man nicht reden. Man muss sie vergessen oder, wenn einem das nicht gelingt, stumm ertragen.
»Was willst du Zoe sagen, wenn wir uns treffen? Oder soll das heimlich geschehen? Wozu? Wir haben uns dreißig Jahre nicht gesehen. Das können wir nicht nachholen.«
Sie nickt. »Ich habe oft darüber nachgedacht, wie es wäre, wenn wir uns sehen. Ich habe immer Angst gehabt, dass du mich hassen würdest.«
Ich, ich, ich … Wie ist es nur möglich, dass diese dumme egozentrische Frau seine Mutter ist. Wütend sagt er: »Ich hasse dich nicht. Du bist mir vollkommen gleichgültig! Hassen kann man nur jemand, den man kennt. Aber ich kenne dich nicht. Woher denn? Gehasst und geliebt habe ich die Frau, die mich verlassen hat, als ich ein Junge war. Ich sage das nicht, um dich zu kränken. Wir sind dreißig Jahre ohneeinander ausgekommen, und das werden wir auch weiterhin.«
Sie starrt auf den Boden vor ihren Füßen, die in dickenWollsocken und abgetragenen Filzpantoffeln stecken. »Was hätte ich denn tun sollen? Du weiß nicht, wie es damals war.«
Als wenn das etwas zu bedeuten hätte! Ist sie all die Jahre seither tatsächlich nicht weitergekommen, als sich für das unschuldige Opfer von gesellschaftlichen Zuständen zu halten? Sein Puls beschleunigt sich. »Es gab im Krieg Unternehmen – unterirdische Raketenwerke, mörderische Straßenbaufirmen –, gegen die waren die Zustände bei uns fast harmlos. Ich sage das nicht, um uns zu entschuldigen, sondern weil ich glaube, dass man mit den Verfehlungen hätte umgehen können. Vielleicht hätte man auch damals, als du den Dingen nachgegangen bist, etwas bewegen können. Aber du bist weggelaufen.«
Sie sitzt im schwachen Schein der Stehleuchte da und nickt langsam. »Ja, ich bin weggelaufen – aber vor etwas, von dem du nichts weißt. Du denkst, du wüsstest alles. Das tust du nicht. Es ging gar nicht um die Zwangsarbeiter.«
Obwohl es kühl ist im Atelier, beginnt er zu schwitzen.
»Was soll das heißen?«
»Was ich nicht ertragen konnte, war etwas anderes. Mehr kann ich dir nicht sagen. Dazu habe ich kein Recht.«
Ein saurer Geschmack füllt seinen Mund, und es kommt ihm vor, als würde die Sofaleuchte heller. »Was ist geschehen?«
»Das darfst du mich nicht fragen.«
»Sondern?«
»Eine Schwester deines Vaters. Sie lebt hier in Holland.«
»Lisa?«
»Ja.«
»Was ist mit ihr? Was ist geschehen?«
»Du musst sie selbst fragen.«
Er kann gerade noch denken: Es ist eine Aura. Und dass er sich dieses Mal nicht irrt, wie vor einer Woche. Dann versinkt alles im Dunkeln. Nein, es ist weniger. Für das, wohin er stürzt, gibt es kein Wort. Nicht einmal Nichts.
ZWANZIG
ER ERWACHT auf dem Sofa im Atelier. Durch das große, in viele Quadrate unterteilte Fenster an der Stirnseite des Raumes dringt schwaches weißes Licht herein. Auf den glasierten Backsteinen des Bodens liegt ein leichter morgendlicher Glanz.
Er steht auf und betrachtet sich in dem schmalen Spiegel neben dem Putzschrank. Er trägt einen blauen Pullover aus dicker Wolle und eine braune, weiche Kordhose – beides ein wenig zu groß, beides nicht von ihm. Seine Mutter hat sich nicht näher dazu geäußert, wem die Sachen gehören, beziehungsweise von welchem Mann sie ihr geblieben sind.
Seine eigenen Sachen konnte er nach dem Anfall nicht mehr anziehen. Es war Urin abgegangen. Er hätte duschen müssen, aber er wollte nicht ins Haus, wo möglicherweise Piet herumgeisterte. Als er nach dem Anfall wieder zu sich kam, lag er auf dem Boden, verschwitzt und frierend. Seine Mutter – die Mutter einer Epileptikerin – kümmerte sich um ihn. Für ein paar Minuten war er noch einmal ihr Kind.
Er wusch sich an dem kleinen Waschbecken in der Toilette, die zum Atelier gehört. Seine Mutter brachte ihm Handtücher, dann trockene Kleidung, den Pullover, die Hose.Die Sachen sind bequem und warm, aber es irritiert ihn, wie anders er darin aussieht. Ländlicher,
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