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Was Liebe ist

Was Liebe ist

Titel: Was Liebe ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Woelk
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er sieht nicht, was sich dadurch ändert. »Hattest du Angst, es mit zwei Kindern nicht zu schaffen? Hattest du Angst, nach dem Luxus in den Sechzigern arm zu sein?«
    Sie bleibt ruhig. Sie hat dreißig Jahre Zeit gehabt, dieses Gespräch in Gedanken immer wieder zu führen und sich die Sätze zurechtzulegen. »Ich sage dir, wovor ich Angst hatte: bei einer Scheidung nicht nur dich, sondern auch Zoe zu verlieren. Aber noch wusste niemand, dass ich schwanger war, auch dein Vater nicht. Und mir war klar, dass es dabei bleiben musste. Das war meine einzige Chance, wenigstens dieses Kind in mir zu retten.«
    Er sagt: »Ich war auch dein Kind.«
    Sie presst die Lippen einen Moment lang aufeinander, als müsse sie eine Gefühlsaufwallung zurückhalten. »Glaubst du, das alles wäre leicht für mich gewesen? Ich wusste ja nicht mal, wohin ich gehen sollte. Und irgendwann habe ich in meiner Verzweiflung meinen Koffer gepackt und bin nach Berlin gefahren. Das Café auf der anderen Straßenseite gab es damals schon. Ich kannte es von den Tagen im Archiv. Allerdings war es mehr ein politisches Aktionsbüro, das von einer Kommune im dritten Stock betrieben wurde. Da kroch ich eine Weile unter. Dann verliebte ich mich in einen Holländer und ging mit ihm nach Amsterdam. Ich verzichtete gegenüber der Familie auf alle Ansprüche und ließdie Scheidungsformalitäten von einem Anwalt regeln. Von Zoe hat niemand etwas erfahren. Ich habe ein neues Leben angefangen.«
    »Ein neues Leben mit neuen Lügen. Zoe hat mir erzählt, du hättest aus politischen Gründen in der DDR im Gefängnis gesessen.«
    »Irgendetwas musste ich mir ja einfallen lassen«, sagt sie und schlägt die Kapuze ihrer Windjacke hoch, weil der Regen stärker wird. »Diese Geschichte war bis zum Fall der Mauer nicht überprüfbar und hat hier in den Niederlanden gut funktioniert. Und als Zoe wissen wollte, wer ihr Vater ist, habe ich behauptet, er habe in dieser Berliner Wohngemeinschaft gelebt. Ich dachte, selbst wenn es die noch geben sollte, wird sich dort niemand mehr an mich und mein kurzes Gastspiel Ende der sechziger Jahre erinnern. Doch was geschieht? Zoe lernt Piet kennen, zieht dort ein und trinkt im Erdgeschoss jeden Morgen ihren Kaffee! Nun gut, dachte ich, warum auch nicht. Es hat nichts mehr zu bedeuten. Die Verbindung zur Vergangenheit ist durchtrennt.«
    Sie kehren um. Es drängt ihn nicht dazu, mehr zu erfahren. Was er wissen muss, weiß er jetzt. Was geschehen ist, war nicht vorhersagbar, aber auch nicht das Ergebnis eines blinden Zufalls. Offenbar kann man die Fäden der Zeit nicht durchtrennen. Irgendwie pflanzt sich alles fort: Schönheit, Begabung, Krankheit, Schuld.
    Er muss aufhören, über Zoe und sich nachzudenken. Jede Überlegung vertieft seinen Schmerz. Es ist vorbei. Es wird ihm nicht einmal eine mit dem süßen Puder der Sehnsucht und Sentimentalität bestäubte Erinnerung bleiben.
    Nachmittags fahren Piet und Zoes Mutter (er kann nicht denken: seine Mutter) zum Krankenhaus, um Zoe zu besuchen. Sie steht nach wie vor unter Narkose. Die Prognose ist immer noch ungewiss, das EEG unbefriedigend.
    Das weiß getünchte Nebengebäude ist das Malatelier. In den Regalen liegen Pinsel, Tuben, Lappen. Der Betonboden ist mit getrockneten Farbspritzern gesprenkelt. Die Bilder an den Wänden, teils Acryl auf Leinwand, teils Aquarelle, zeugen, soweit er in der Lage ist, das zu beurteilen, von keinem ausgeprägten künstlerischen Talent. Aber sie sind auch nicht dilettantisch.
    Neben Landschaften gibt es eine Sammlung von Bildern, die er als esoterisch bezeichnen würde und mit denen er nicht viel, eigentlich überhaupt nichts anfangen kann. Sanfte Farbkompositionen, Ton in Ton, mit geschwungenen Formen, die man mal als rosa Dünen, mal als wallende Mähnen interpretieren könnte.
    Abends sitzen sie zusammen am Esstisch im Wohnzimmer. Es brennen viele Kerzen, und auf einer alten Bauernkommode schwelt ein Räucherstäbchen, von dem Zimtduft ausgeht. Das Brot ist dunkel und schwer und alles, was man drauflegen und -streichen kann, vegetarisch. Nicht gerade Zoes Stil, denkt er, höchstens die Flasche Rotwein auf dem Tisch.
    »Ich frage mich«, sagt Piet, »ob den Ärzten in Middelburg zu trauen ist.«
    Er betrachtet Piet und Zoes Mutter. Vom Alter her würden sie ein stimmiges Ehepaar abgeben, beide nicht sehr groß, äußerlich nicht schlecht zueinander passend.
    »Sowohl im Jazz-Café«, sagt er, »als auch im Krankenhaus haben sie sich professionell

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