Was Liebe ist
Geschichte zusammen. Auf jeden Fall hat er ein Recht darauf zu erfahren,was geschehen ist. Wir haben vor knapp zwei Stunden miteinander gesprochen. Es kann also nicht mehr lange dauern, bis er hier ist.«
Irgendwann ist es so weit, denkt er. Vielleicht hat er nur noch Minuten. Dann wird der Film seines Bewusstseins reißen – und im ersten Moment wird das vielleicht eine Erlösung sein. Aber dann wird er sich durchnässt und elend auf dem Boden liegend wiederfinden. Oder in einem Bett auf der Intensivstation, nach Tagen unter Propofol.
Nach etwa zwanzig Minuten öffnet sich die Fahrstuhltür. In der Kabine steht Piet. Seine leichten weißgrauen Haare sind im Regen nass geworden und kleben ihm am Kopf. Dadurch wirkt seine Nase riesig. Doch auch in diesem Zustand verliert er die Attraktivität des älteren Herrn nicht, die ihm unbestreitbar anhaftet. Er geht auf Zoes Mutter zu und umarmt sie lange. Offenbar spendet seine Anwesenheit ihr Trost.
Er fragt: »Wie geht es Zoe?«
Sie lösen sich voneinander. »Die Schwester weiß, dass wir hier sind. Sie würde uns informieren, wenn es eine Veränderung gäbe. Die Narkose hat die epileptische Aktivität unterbrochen, aber sie wissen noch nicht, wann sie Zoe aufwecken können. Vor morgen früh sicher nicht. Im ungünstigsten Fall kann es bis zu vierzig Stunden dauern.«
Piet wendet sich um. Dann stehen sie sich gegenüber: die beiden Männer in Zoes Leben. Piet, der ihnen nach Amsterdam gefolgt ist. Ein Ausdruck wahrer Liebe? Oder von krankhafter Eifersucht? Piets Blick ist nicht feindselig, aber unverhohlen geringschätzig.
Er sagt: »Das haben wir nun davon. Ich habe Sie gewarnt, aber Sie mussten es ja drauf ankommen lassen.«
Er hat nicht vor, mit Piet zu diskutieren. Hier nicht und überhaupt nicht. Einen Moment lang überlegt er, ob es eine Option ist, das Krankenhaus zu verlassen. Zoe braucht ihn nicht mehr. Sie ist medizinisch versorgt, und ihre Mutter und ihr Lebensgefährte sind an ihrer Seite. Alles ist geordnet. Was soll er hier eigentlich noch?
Zoes Mutter sieht ihn irritiert an. »Gewarnt? Sie wussten doch , dass Zoe Epileptikerin ist?«
»Ich wusste absolut nichts. Ich habe Zoe nicht einmal aufgefordert, zum Flughafen zu kommen, um mit mir nach Amsterdam zu fliegen. Ich weiß nur, dass sie es in Berlin nicht mehr ausgehalten hat. Das ist es, was sie mir gesagt hat.« Er wendet sich an Piet. »Dass Sie sich mit ihrem Pianisten angelegt haben, hat das Fass zum Überlaufen gebracht.«
Piet lässt sich nicht aus der Ruhe bringen und wirft eine Münze in den Kaffeeautomaten. »Was verstehen Sie denn schon von Musik.«
Zoes Mutter sagt irritiert: »Wieso mit ihrem Pianisten? Sie sind doch Zoes Pianist.«
»Er?«, sagt Piet wegwerfend. »Das wäre er wahrscheinlich gern.«
»Er hat Zoe heute Abend bei ihrem Auftritt begleitet.«
»Ist das wahr?« Piet nimmt den Kaffee aus dem Automaten. »Wie kann Zoe sich auf so ein Niveau begeben?«
Er geht auf Piets Polemik nicht ein und wendet sich an Zoes Mutter: »Es tut mir leid, ich hätte das Ihnen gegenübersofort aufklären sollen. Ich habe Zoe begleitet, aber nicht professionell. Ich bin nicht ihr Pianist.«
»Und wer sind Sie?«, erkundigt sie sich reserviert.
»Roland Ziegler. Ich kenne Zoe erst seit einer Woche. Wir sind uns in einem Café begegnet, als ich beruflich in Berlin war. Ich habe mit Musik nichts zu tun, sondern bin Jurist im Vorstand eines elektrotechnischen Familienunternehmens.«
Er streckt ihr die Hand entgegen. Er hat das Bedürfnis, bei seiner verspäteten Vorstellung wenigstens die Form der Höflichkeit zu wahren. Doch etwas läuft dabei nicht so, wie es sollte. Zoes Mutter verliert ihre Farbe. Ihr Gesichtsausdruck verändert sich. Die Rüschen und Raffungen ihrer weiten Bluse fangen an zu zittern.
Sie sieht ihn entgeistert, geradezu bestürzt an. Dieses Entsetzen steht in keinem rechten Verhältnis zu der Tatsache, dass er sie eine Stunde lang über seine wahre Identität in Unkenntnis gelassen hat. Aus ihrem Innern dringt ein klagendes Stöhnen, das sich zu einem durchdringenden sirenenhaften Schrei steigert.
Sie stürzt sich mit so viel Wucht auf ihn, dass sie ihn beinahe umwirft. Sie trommelt mit ihren Fäusten gegen seinen Brustkorb. Sie will ihn beschimpfen, aber sie kommt immer nur bis zum »Sie …!« oder irgendwann »Du …!«, weil sie ihm die Würde des Sies offenbar nicht mehr zugesteht.
Der Schrei alarmiert das Krankenhauspersonal. Am Ende des Korridors
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