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Was Liebe ist

Was Liebe ist

Titel: Was Liebe ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Woelk
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taucht eine Schwester auf und eilt auf ihn und Zoes Mutter zu. Er hat ihre Handgelenke umfasst. Sie atmet unregelmäßig und flach. Piet, sonst immer souverän und spöttisch distanziert, steht betreten daneben. Mit seinennassen verklebten Haaren, der riesigen Nase und dem Plastikbecher in der Hand sieht er plötzlich aus wie ein Tippelbruder.
    Die Krankenschwester bleibt neben Piet stehen. Zoes Mutter scheint sich ein wenig gefangen zu haben. Gegen ihn gelehnt steht sie da. Er umarmt sie vorsichtig. Er hat nicht die geringste Ahnung, was los ist, aber vielleicht kann er sie mit dieser beschützenden Geste weiter beruhigen.
    Doch das Gegenteil ist der Fall. Als sie die Umarmung spürt, richtet sie sich ruckartig auf. Sie schlägt seine Arme beiseite und sieht ihn so intensiv und verzweifelt an, dass er das Gefühl hat, ihr Blick könnte sein Gesicht auflösen und zu irgendeiner dahinter verborgenen Wahrheit vordringen.
    Und dann sieht er sie auf einmal: die verborgene Wahrheit. Er sieht, was die ganze Zeit über schon da war. Er ist fassungslos. Was er sieht, ist vernichtend. Er hätte nicht gedacht, dass einem in einem einzigen Augenblick so viel genommen werden kann. Eigentlich alles.

NEUNZEHN
    ER STARRT IN DEN REGEN über dem Meer. Die Wahrscheinlichkeit, an Epilepsie zu erkranken, liegt im Bevölkerungsdurchschnitt bei einem Prozent, unabhängig von Rasse und Geschlecht. Aber auch ohne dass eine Epilepsie chronisch wird, kommen epileptische Anfälle vor. Etwa fünf Prozent der Bevölkerung erleiden im Laufe des Lebens einen oder mehrere epileptische Anfälle. Die Ursachen dafür sind vielfältig – starkes Fieber, Alkoholmissbrauch oder -entzug, Entzündungen der Großhirnrinde oder Medikamenten- und Drogenabhängigkeit.
    Es riecht nach Dieselqualm, der aus dem Schornstein auf Deck weht. Wenn auch keine Volkskrankheit, so sind epileptische Anfälle doch mehr als ein exotisches Randphänomen. Einem Epileptiker zu begegnen, ist nicht unwahrscheinlich, es ist nur selten – und meistens bekommt man nichts davon mit. Aber eigentlich, denkt er, sind all diese Überlegungen überflüssig. Was soll er sich über Wahrscheinlichkeiten und Ursachen Gedanken machen? Er weiß, was geschehen ist – er kann es nur noch nicht fassen. Es ist zu quälend.
    Piet stellt sich neben ihn. Die Fähre schwankt leicht in den Wellen. Es ist nicht stürmisch, der Regen fällt mit tristerStetigkeit in die Pfützen auf Deck. Am Horizont sind die Wolken hell, darüber dunkelgrau. Der Überstand des oberen Decks ist zu gering, um Piet und ihn wirklich vor dem Regen zu schützen.
    »Solange die Situation ist, wie sie ist«, sagt Piet, »sollten wir uns angemessen verhalten.«
    Natürlich sollten sie das. Aber es fällt ihm schwer. »Wie ist die Situation denn? Ich glaube nicht, dass Sie das wissen.«
    »Ich weiß, wie es ist, Zoe zu lieben.« Der ironische Unterton, den Piet sonst pflegt, fehlt jetzt.
    »Zoe zu lieben, ist leicht«, sagt er abweisend. »Von ihr geliebt zu werden ist die größere Erfahrung.«
    Piet schlägt den Mantelkragen hoch, um besser vor dem Regen geschützt zu sein. »Es geht Ihnen um Erfahrungen – das verstehe ich. Aber wer Zoe liebt, übernimmt Verantwortung für sie. Ich habe versucht, Ihnen das klarzumachen. Mehr zu sagen, hatte ich kein Recht.«
    Er fällt ihm schwer, sich das einzugestehen, aber aus Piets Perspektive würde er die Dinge wahrscheinlich ganz ähnlich beurteilen.
    »Was sind das für Medikamente, die Zoe nimmt?« Er darf nicht zu gezielt nachfragen, um nicht den Eindruck zu erwecken, dass er sich mit den medizinischen Fakten auskennt.
    »Sie heißen Lamictal und Keppra und unterdrücken ihre Anfälle. Aber Zoe sagt, Lamictal würde sie zu sehr dämpfen. Sie sagt, dass sie manchmal den Eindruck hat, nichts mehr zu fühlen.« Piet macht eine kurze Pause und fügt dann hinzu: »Liebe ist nur ein Aspekt. Es geht um mehr.«
    Dass sie zusätzlich zu Lamictal noch Keppra nimmt, zeigt, dass ihre Anfälle schwerer zu kontrollieren sind als seine. Kann es wirklich sein, dass sie nichts gefühlt hat, als sie sich kennengelernt haben? Er kann das nicht glauben.
    »Wenn ich Sie richtig verstehe, brauchten Sie nur abzuwarten, bis es zu einem Anfall kommen würde.«
    »Ich habe getan, was möglich war, um das zu verhindern. Ich bin nach Amsterdam gekommen, um Zoe davon zu überzeugen, ihre Medikamente zu nehmen. Aber sie war nicht zugänglich für das, was ich gesagt habe. Sie war auf einem ihrer

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