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Was Liebe ist

Was Liebe ist

Titel: Was Liebe ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Woelk
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naturverbundener. Wie jemand, der Bäume beschneidet oder angeln geht.
    Er sieht sich um. Seine Mutter hat die Sachen aus einem alten Schrank genommen, der neben der Toilettentür steht. Vielleicht gibt es dort ja noch eine andere Hose oder wenigstens ein Hemd, das besser zu ihm passt. Wie er von Zoe weiß, gab es viele Männer im Leben seiner Mutter.
    Tatsächlich findet sich in dem Schrank ein Sammelsurium von abgelegten Kleidungsstücken: altmodisches gelbes Regenzeug, Hemdblusen aus Kunstseide, bunte Wickelröcke. Auf dem Boden liegen ausgemusterte Accessoires herum – Schals, Handtaschen, Gürtel. Er stutzt. Er geht in die Knie und schiebt ein Seidentuch beiseite. Darunter kommt ein breiter brauner Gürtel aus rissig gewordenem Leder zum Vorschein. Er kennt den Gürtel beziehungsweise die runde Schnalle aus dunkler Bronze in Form einer Sonne mit züngelnden Strahlen.
    Er nimmt den Gürtel in die Hand und betrachtet die Schnalle. Der mächtige Sonnengott Surya. Das Metall ist verstaubt und grünlich angelaufen. Seit seine Mutter fortgegangen ist, hat Surya ihn mit seinem spöttischen Lächeln verfolgt, hat ihm suggeriert, dass die Mächte des Schicksals stärker sind als unsere Versuche, glücklich zu werden. Und jetzt ist alles, was er in der Hand hält, ein verstaubtes und vergessenes Stück billiges Kunsthandwerk.
    Er bricht auf. Hinter Cadzand werden die Straßenränder von kurzstämmigen knorrigen Weiden gesäumt. Ihre gestutzten Kronen treiben graue Büschel dünner Ruten in denfarblosen Dunst. Am Fährhafen reiht er sich in die Schlange der wartenden Fahrzeuge ein. Auf der Überfahrt von Breskens nach Vlissingen klingelt sein Telefon. Er steht an der hinteren Reling und nimmt das Gespräch entgegen. Es ist Rolf. »Was war los? Du warst zwei Tage lang nicht zu erreichen.«
    Die Fähre zieht einen Schwarm von nervös auf- und abflatternden Möwen hinter sich her.
    »Der Akku war leer, und ich hatte keine Möglichkeit, mein Telefon aufzuladen«, sagt er.
    »Wo steckst du denn? Immer noch in Holland? Gibt es da keinen Strom? Vielleicht sollten sie doch ein paar von unseren Transformatoren kaufen.«
    »Ich habe Tante Lisa getroffen.«
    »Das hattest du ja vor. Wie geht es ihr?«
    »Habe ich dir eigentlich gesagt, dass sie während des Krieges in der Krankenstation unserer Firma tätig war?«
    »Nein, hast du nicht«, sagt Rolf. »Du hast mir eine Menge nicht gesagt.«
    »Hätte es dich denn interessiert?«
    »Das ist dein Problem: Du hast von Anfang an gedacht, du würdest auf verlorenem Posten stehen. Soll ich dich mal auf den neuesten Stand bringen?«
    »Nur zu.«
    »Der Vorstand hat einer Beteiligung am Entschädigungsfonds für die Zwangsarbeiter zugestimmt.«
    »Wie bitte? Ich dachte, es wäre klar, dass die HBSA einer Kapitalerhöhung in diesem Fall nicht zustimmen würde.«
    »Das ist das, was man mir im Vorfeld zu verstehen gegebenhat. Aber du musst mit deinem Auftritt in Berlin ein paar Leute nachhaltig beeindruckt haben. Offenbar hast du dich ja einen Dreck um den Bundeskanzler und die anwesende Politprominenz geschert, hast deine Meinung gesagt und bist gegangen. Ich gebe zu, dass ich dir so viel Kaltblütigkeit nicht unbedingt zugetraut hätte. Feldmann und Sudhoff haben sich die Sache danach jedenfalls nochmal durch den Kopf gehen lassen, und als ich unser Meeting damit eröffnet habe, dass du verhindert bist, haben sie das bedauert, weil sie die Entschädigungsfrage doch auf die Tagesordnung setzen wollten.«
    »Um eine Beteiligung an dem Fonds zu unterstützen?«
    »Letztlich ja. Sie sind inzwischen der Meinung, dass man die Beteiligung als strategische Investition betrachten kann. Juden sitzen überall an den Schalthebeln. Was mich betrifft, habe ich die Angelegenheit immer unter pragmatischen Gesichtspunkten betrachtet, das weißt du ja. Mir geht es um die Firma.«
    Sollte er jetzt eine Art von Triumph empfinden? Eine strategische Investition. Das klingt nicht unbedingt nach einem Sieg der Gerechtigkeit. Trotzdem – er hat erreicht, was er wollte. Er hat gewonnen, und gleichzeitig hat er verloren. Wenn er an den Tag der Entschädigungskonferenz zurückdenkt, denkt er zuerst an Zoe. An ihre Stimme, als sie singt. Wie soll er in Zukunft mit seinen Erinnerungen umgehen? Er weiß es nicht.
    Die Hafeneinfahrt von Vlissingen schält sich aus der diesigen Seeluft. Er sagt: »Ich habe nicht damit gerechnet, dass ich etwas bewegen würde.«
    »Dann läuft es manchmal am besten: Wenn man mit nichts

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