Was man so Liebe nennt
bißchen.
»Ja, ich erinnere mich.«
»Ich hatte recht. Aber sie hat Sylvia nicht besucht. Sie telefonierte mit ihr.«
Das war neu für Vic. »Oh...«, murmelte er.
»Ich habe mir von der Telefongesellschaft Sylvias Telefonate um die Zeit herum auflisten lassen. Nur ein einziger Anruf war aufgeführt — wie du ja selbst gesagt hast, als du nach Emmas Tod vorbeikamst, klingelt Sylvias Telefon nie. Außer natürlich, wenn Emma sie anrief. Und dieser einzige Anruf war am Tage ihres Todes und die Uhrzeit zwanzig Minuten vor dem Unfall .« Zum ersten Mal klang Joes sachliche, fast muntere Stimme plötzlich hart, aber dann fiel sie wieder in die alte Tonlage zurück: »Und natürlich war auch die Nummer aufgeführt. Die ich von da an in regelmäßigen Abständen immer wieder angerufen habe.«
Vics Gedanken überschlugen sich. »In welchen Abständen?«
»Jeden Abend. Ehe ich schlafen ging. Und wenn ich nachts aufwachte. Was oft vorkommt in der letzten Zeit.«
Noch während er sprach, ging er die fünf oder sechs Schritt zu einem Ordnerschrank neben dem mit Regentropfen gesprenkelten Fenster.
»Es war sehr aufregend, als endlich jemand dran ging. Kannst du dir vorstellen, wie es ist...«, er runzelte die Stirn, während er nachrechnete, »...sechs Monate lang jeden Abend eine Nummer anzurufen. Und dann nimmt plötzlich jemand ab! Aber aus irgendeinem Grunde...«, fuhr er fort, während er die obere Schublade aufzog, »war es überhaupt nicht überraschend, deine Stimme zu hören.«
Vic überlegte, ob es ein Einstiegsloch für irgendeine Lüge gab, warum er am Apparat gewesen war; aber er wußte nicht, wo er anfangen sollte; außerdem wirkte Joe so, als hätte er noch andere Informationen zur Verfügung.
»Joe...«, begann er statt dessen. »Es tut mir so leid... ich...«
»Wo ist es?«
»Was?«
»Die Nummer. Dulwich, oder irgendwo in der Nähe, nicht wahr? «
Vic starrte ihn mit offenem Mund an. »Herne Hill. Es ist eine Wohnung in Herne Hill.« Joe nickte. Er holte einen Hängeordner aus der Schublade. Es war eine Mappe, in der verschiedene zugeschweißte Klarsichtfolien abgeheftet waren; in jeder lag eine Mikroskopplatte mit irgendwelchem Blut, Kulturen oder Gewebe darauf. Er hielt die Folie ins Licht der Neonröhren.
Vic sagte sich, wenn er sich entschuldigen wollte, dann sollte er wohl lieber zu Joe hingehen, es vielleicht sogar mit einer Umarmung probieren. Er machte Anstalten aufzustehen, mußte sich aber sofort wieder setzen, denn um seine Nase und sein Auge herum durchzuckte ihn ein stechender Schmerz.
»Das solltest du vorläufig lieber sein lassen«, sagte Joe und holte die Platte aus der Hülle. »Ich habe dir Bulatol gegeben, als du hinüber warst; es betäubt zwar den Schmerz, aber wenn du schnell aufstehst, wird dir noch schwindlig sein.«
»Bulatol?«
»Es ist ein Schmerzkiller. Und...« Er hustete wieder. »Entschuldige... ein Beruhigungsmittel.«
Vic starrte ihn an. Plötzlich hatte er das Ganze hier satt. Man hatte ihn ruhiggestellt?
»Joe! Tun wir nicht so, als wären wir in einem James Bond-Film, ja?« Er rieb sein bandagiertes Gesicht. »Warum zum Teufel hast du mich hierher gebracht?«
Joe löste seinen Blick endlich von der Platte und sah Vic an. »Als ich dich schlug, hast du geblutet«, sagte er.
»Ach ja? Als Biochemieexperte konntest du eine solche Körperreaktion wohl nicht voraussehen, das mußtest du erst praktisch machen?« Joe erwiderte nichts. »Und dann hast du mich die ganze Strecke bis nach Kent gefahren, bloß um mich zu verbinden?«
»Nein. Mir kam eine Frage in den Kopf.« Über die Tischplatte zog er ein Mikroskop zu sich heran, das auf den ersten Blick leichter als solches zu erkennen war als das Gerät in der Ecke. »Wunderst du dich nicht, daß du dieses Jahr keinen Heuschnupfen hast?«
Vic fuhr zusammen, lehnte den Kopf in den Nacken. »Doch. Natürlich. Aber ich habe nicht weiter darüber nachgedacht. Hat wahrscheinlich mit diesem beschissenen Sommer zu tun, sagte ich mir.«
Joe schüttelte den Kopf. »Nein. Laut den Messungen gibt es diesen Sommer mehr Pollen denn je.« Er schniefte. »Sogar mir machen sie ein bißchen zu schaffen, und ich habe sonst nie was gespürt.«
»Und?«
»Nun...«, sagte Joe und sah eine Sekunde so aus, als hätte er gern Schautafel und Zeigestock zur Hand. »Laß mich dir kurz erklären, was es mit dem Heuschnupfen auf sich hat. Wie jeder davon Betroffene hast du Zellen in deinem Körper, die von einer Chemikalie namens IgE
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