Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Was man so Liebe nennt

Was man so Liebe nennt

Titel: Was man so Liebe nennt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Baddiel
Vom Netzwerk:
Hipgnosis-Entwurf für Yes oder Gentle Giant oder sonstwen, eine Gitarre, die sich lebendig aus ihrem Grab erhebt.
    Vic grub seine Hände unter die Ränder des Lochs, das die Gitarre in die Kiste gehauen hatte. Er zerrte an den brüchig gewordenen Holzlatten, riß sie stückchenweise aus ihrer Verankerung und warf sie über die Schulter nach hinten, wo sie nach und nach zu einem flammenlosen Scheiterhaufen anwuchsen.
    Ich will sie sehen, hörte er sich laut sagen, ich will sie sehen, und da ihm genau klar war, welche Symbolik in den Worten steckte, fielen sie ihm ganz leicht. Schließlich war vom Deckel der Kiste so gut wie nichts mehr übrig, und als erstes kam ein Ozean von Klarsichtnoppenverpackung zum Vorschein. Vic legte eine Hand behutsam auf die oberste Schicht und kippte die Kiste vorsichtig um, so daß die einstige Seitenwand auf dem Boden lag; dann ging er um die Kiste herum zu der Öffnung, wo der Deckel gewesen war, und zog das Instrument heraus. Keuchend stellte Vic es aufrecht hin — es war leichter, als er erwartet hatte; mit den Styroporbrocken ringsherum stand es ungestalt wie eine riesige Büste von John Merrick, dem Elefantenmann, mitten im Raum. Vic riß an den Styroporblöcken, ein leichteres Unterfangen als vorher mit dem Holz, obwohl er immer wieder auf Teile stieß, die mit einem breiten braunen Klebeband zusammengehalten waren; die riß er mit den Zähnen auseinander. Aber schließlich fielen die weißen Blöcke von dem Instrument ab, wie ein Kleid von den Schultern einer Frau.
    Vic starrte auf seinen Schatz: Ein leiser Aufschrei entfuhr ihm. Er wandte die Augen ab und blickte hinunter auf den Ball zerknüllter Klarsichtnoppenverpackung in seiner Hand. Ais er sie öffnete, glättete sich das elastische Material, und Vic sah zu, wie die Noppen, die wie Seifenblasen aussahen, ordentlich in ihrer Linie blieben, nicht etwa forttrieben und auch nicht platzten. Nein: Vor ihm stand ein Roland G300, eins der besten elektronischen Keyboards auf dem Markt. Vic wußte das, weil sich der Keyboarder bei seinem letzten Job für Frosta darüber ausgelassen hatte, vor allem darüber, wie fantastisch es andere Instrumente sampelte. Na gut, dachte Vic, gut-. Dann kann ich ihm ja wahrscheinlich einen waschechten gälischen Harfenklang entlocken. Das war sein letzter Gedanke, bevor das Telefon klingelte.

    Es ist angeschlossen, war sein erster nächster Gedanke. Dann wünschte er, er hätte eine Ahnung, wie spät es war. Nicht daß es eine große Rolle gespielt hätte bei dem Rätsel, wer wohl am anderen Ende war, denn auch tagsüber hatte vorher nie jemand hier angerufen. Aber Vic fragte es sich instinktiv, denn wenn spät abends oder nachts das Telefon klingelt, guckt man automatisch auf die Uhr, und wenn eine bestimmte Zeit überschritten ist, die von Person zu Person variiert, will man am liebsten nicht abheben, weil es bloß etwas sein kann, was man lieber nicht hören will. Es klingelte immer noch, jetzt war es schon beim fünften Doppelton. Vic fragte sich, warum England auf seinem Doppelklingeln beharrte, wo doch die Telefone sonst überall in Einzeltönen schrillten. Als er ins Schlafzimmer hinüberging, meinte er, die beiden Hörergabeln bei jedem Klingeln beben zu sehen, wie bei einem Trickfilmtelefon.
    Vic wollte wissen, ob es jetzt soweit war, ob sein Schicksal ihn ereilte. Er hatte allmählich die Nase voll von Dingen, die nicht sein Schicksal waren. Als er hierhergefahren war, hatte er geglaubt, es sei seine Bestimmung, aber dann regnete es und er hatte sich das Schienbein verletzt, was alles überhaupt nicht ins Bild paßte. Und dann war die Harfe verschwunden, ein Keyboard an ihre Stelle getreten, was sich noch verkehrter anfühlte. Deswegen wollte er nicht abnehmen. Noch eine Ernüchterung würde er nicht ertragen. Das Schlimmste — schlimmer, als wenn sich der Todesengel am anderen Ende meldete —, das Allerschlimmste wäre, wenn sich einfach jemand verwählt hätte und eine harsche Stimme »Ist Jimbal da?« fragte. Das ist die Krux am eigenen Schicksal: Wie soll man wissen, wenn es einen trifft. Woran soll man es von den beliebigen Zufällen des Lebens unterscheiden?
    Sein Arm schwebte direkt über dem Hörer, und Vic war, als läge ein Luftkissen zwischen seinem Handgelenk und dem Plastikapparat. Er hatte aufgehört, die Klingelzeichen mitzuzählen; aber Vic war klar, daß hier jemandem etwas auf den Fingern brannte, jemand eine Antwort haben wollte.
    Er nahm ab. Einen Moment war er sich

Weitere Kostenlose Bücher