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Was man so Liebe nennt

Was man so Liebe nennt

Titel: Was man so Liebe nennt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Baddiel
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unsicher, wer wohl in einem solchen Szenarium als erster sprach. Die Kräfte waren hier ungleich verteilt, alle Vorteile auf seiten des Anrufers.
    »Hallo?« sagte er schließlich; etwas in ihm sträubte sich dagegen, sich mit »Vic hier« zu melden. Aber sowie das »Hallo« heraus war, hatte er das Gefühl, sich verwundbarer gemacht zu haben, weil es eine Frage war, ein Ruf ins Dunkle, wie »Wer da?«. Schweigen am anderen Ende, obwohl eindeutig ein sehr leises Atemgeräusch zu hören war. »Hallo?« sagte Vic wieder, etwas bestimmter. Immer noch keine Antwort. Das Atmen war weiter zu hören, leise und unaufdringlich, nicht obszön. Der Gedanke, daß sich wahrscheinlich wirklich nur jemand verwählt hatte, schlug Vic wie Blei auf den Magen, und er wartete auf die dämliche Frage nach irgendwem oder, noch wahrscheinlicher, das Klicken, mit dem einfach aufgelegt wurde.
    Aber ehe das Klicken kam, hörte er ein deutlicheres Geräusch, im Grunde nicht viel anders als das Atmen — ein Geräusch, das tatsächlich eng damit verwandt war, nur schneller und heftiger aus den Lungen quillt. Aber für Vic war es ein bedeutungsvoller Unterschied: Es war ein Husten.
    Er hatte ihn längere Zeit nicht gesehen, aber er wußte, daß Joe einen Husten hatte.
    »Joe?« sagte er, aber in dem Moment kam das Klicken, und danach drang nur noch das Rauschen der Leitung an sein Ohr. Er lauschte noch eine Weile auf das stille Knistern der Elektrizität durch die dunklen Hochspannungsleitungen, ehe er dachte: Ich glaube, das ist’s jetzt wohl. Mein Schicksal.

VIC UND JOE

    V ic brauchte nicht lange zu warten, bis alles seinen Lauf nahm. Kaum war er wieder zurück in seiner eigenen Wohnung in Sydenham und hatte sich ins Wohnzimmer gesetzt, da läutete es an der Tür. Diesmal brauchte er nicht zu rätseln, wie spät es war; er sah auf die alte Bahnhofsuhr, die Tess ihm einmal geschenkt hatte: 2.16 Uhr. Daß es so spät war, scherte ihn nicht. Er hielt sich nicht erst mit der Gegensprechanlage auf, sondern ging durchs Treppenhaus hinunter zur Eingangstür. Als er sie aufmachte, stand, wie er es erwartet hatte, Joe vor ihm, in einem leichten grauen Popelinemantel, der kaum die richtige Bekleidung für den strömenden Regen war. Das nasse Haar klebte Joe an der Stirn, was ihn jünger aussehen ließ, fand Vic.
    »Hallo«, sagte Vic und dann, aufrichtig verwundert: »Hast du abgenommen?«
    Als Anwort schlug ihm Joe mit voller Wucht ins Gesicht.

    Das erste, was Vic sah, als er wieder zu sich kam, war Weiß: ein so reines, leuchtendes Weiß, daß er sich fragte, ob er tot war oder im Krankenhaus oder vielleicht blind, denn irgendwo hatte er gelesen, daß es blinden Leuten nicht unbedingt schwarz vor Augen ist. Ihm war jedoch, als fließe das Weiß in verschiedenen Feldern hin und her — direkt vor seinen Augen war ein leuchtendweißes Feld, das sich dann wieder zu entfernen schien; im nächsten Moment bewegte sich ein neues Feld direkt auf sein linkes Auge zu und zwang ihm eine Schwarzweißsicht der Welt auf: Vor seinem einen Auge war es hell, vor dem anderen dunkel.
    Mit dem hell sehenden Auge sah er auf. Joe beugte sich in seinem weißen Kittel über ihn.
    »Halt still«, sagte er und rollte ein weiteres Stück von der Mullbinde ab und wickelte es Vic um den Kopf.
    »Na gut«, sagte Vic. Als ihm dämmerte, daß er bandagiert wurde, hatte er auch die Erklärung dafür, warum ihm sein linkes Auge und die Nase so weh taten. Er blickte sich um, jedenfalls soweit es ihm möglich war. Er saß auf einem schwarzen Lederdrehstuhl, und jetzt, da seine Sinne langsam wieder erwachten, erriet er, wo er war.
    »Hier arbeitest du also?« sagte er.
    »Ah-hah«, antwortete Joe, ein Ausdruck, den er von Charlene aufgeschnappt hatte.
    »Hübsch.«
    »Danke.«
    »Aber wenn du ein Von-Mann-zu-Mann Gespräch vorhast, wär da das Spice of Sydenham nicht viel passender gewesen?«
    Joe hörte eine Sekunde mit dem Bandagieren auf und sah auf ihn hinab.
    »Da gehen wir doch schon längst nicht mehr hin, oder? Seit ich geheiratet habe nicht mehr, oder genauer...«, Vic war, als zurre Joe den Verband jetzt unnötig fest, »seit ich dir erzählt habe, daß ich heiraten will.«
    Vic nickte; ihm wurde ziemlich flau, und er hatte das Gefühl, daß es Zeit war, das Thema zu wechseln. »Was ist das da?« fragte er und wies auf einen großen grauen, quadratischen Apparat in der Ecke.
    »Ein Elektronenmikroskop.«
    Vic schielte in die Richtung. Über den ganzen großen Raum waren

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