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Was man so Liebe nennt

Was man so Liebe nennt

Titel: Was man so Liebe nennt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Baddiel
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Gang einlegte, machte der Roller einen leichten Rückwärtsruck, was das Schieben noch erschwerte. Die Frau verdoppelte ihre Anstrengung, schob so schnell sie konnte, und dann hörte Vic, wie der Motor sich allmählich eintickte, sehr, sehr langsam, so langsam, daß das Wort »ticken« passend war, eher wie der Rhythmus einer alten Standuhr als der eines Verbrennungsmotors. Verzweifelt drehte Vic das Gas so weit auf, wie es ging. Bitte, dachte er wieder, bitte: Bring mich von hier weg, weit weit weg, bring mich sonstwohin, nur fort von hier — und dann, mit einem lauten Ächzen, explodierte der Motor zum Leben und Vic sauste los. In dem Moment kam ihm die Beschleunigung seiner Lambretta LD wie ein Fliehkrafteffekt vor: Er war Astronaut in einem abhebenden Raumschiff.
    Wie versprochen winkte er. Aus dem Blickwinkel der Frau viel Qualm, ein sich entfernender Rücken und eine erhobene Faust. Vic war so froh, daß er fort kam, daß er es wagte, zu ihr zurückgucken. Sie stand mit verschränkten Armen da und lächelte. Als sie sah, daß er sich umdrehte, streckte sie die Hand aus und hielt den Daumen hoch. Vic lächelte zurück und erwiderte das Daumenhoch. Und da erblickte er hinter der Frau, was er nicht sehen wollte, was er um jeden Preis hatte vermeiden wollen: Emma, die aus der Seitentür neben dem Eingang zum Rock Stop kam. Selbst auf diese Entfernung waren ihre Tränen zu sehen. Schnell drehte Vic sich wieder um, guckte auf die Straße vor sich und hoffte — das einzige Mal in seinem Leben betete er —, daß sie ihn nicht gesehen hatte. Bitte, flehte er heute zum drittenmal, aber diesmal: Bitte, lieber Gott — mach, daß sie mich nicht gesehen hat. Mach, daß sie mich nicht hat lächeln sehen und den Daumen hoch halten.

TESS

    T ess wohnte in einem kleinen Apartment gegenüber der Lambeth North-U-Bahnstation. Als sie jetzt über die Westminster Bridge nach Hause ging, sinnierte sie, wieviel mehr ihr Besitztum wohl wert wäre — fünfmal soviel? zehnmal? —, wenn es in genau der gleichen Entfernung vom Parliament Square, aber zum Norden statt Süden hin läge. Erstaunlich, dachte sie, was ein Streifen Wasser ausmachen kann.
    Die Lampen entlang der Gehwege um das Südufer der Themse gingen gerade an, und London vollführte jenes Kunststück, das nur um diese Zeit und nur von dieser Stelle aus zu beobachten ist — von einer der Flußbrücken im Zentrum in der Abenddämmerung. Da verwandelte sich London plötzlich in einen exotischen Ort. Leute, die schon ewig hier lebten und ihre Stadt, wenn überhaupt, höchstens als enorme urbane Käseglocke wahrnahmen, fühlten sich dann auf einmal wie in einen Reiseprospekt versetzt und dachten: Da würde ich eines Tages gern mal hinfahren. Tess blieb mitten auf der Brücke stehen und ließ ihren Blick schweifen; unter ihr fuhr ein Schleppkahn vorbei und teilte den Fluß mit seinem Bug in zwei Strömungen, so als ginge der Vorhang über einer Wasserbühne auf. Überall um sie herum wurde das gedämpfte Murmeln der Stadt, das seit dem Tod ihrer Königin der Herzen so kummervoll klang, noch einen Hauch leiser.
    Tess sah auf ihre Uhr: zwanzig nach sechs. Vic wollte um halb sieben vorbeikommen. Sie warf einen letzten Blick auf die Szenerie, sog sie ein und ging weiter, am Waterloo-Kreisel vorbei, die Westminster Bridge Street hinab, und spürte die beinahe schmerzliche Ernüchterung, wie schnell London wieder prosaisch wurde.
    In ihrer Wohnung ging sie sofort unter die Dusche. Sie wußte, Vic würde sich mindestens zwanzig Minuten verspäten. Sie hatte also Zeit. Als ihr das brühendheiße Wasser auf den Kopf prasselte, wollte sie schon versuchen, die Temperatur niedriger einzustellen, wußte aber, daß es zwecklos war, da der Punkt der richtigen Mischung von heiß und kalt an ihrem Duschhahn so verschwindend klein war, daß man ihn sowieso nie erwischte; die kleinste Drehung in Richtung Blau, und ein eisiger Schwall ginge auf sie nieder.
    Als sie aus der Dusche trat, griff sie nach ihrem weißen Bademantel, der an der Badezimmertür hing. Was die einfachsten Alltagsverrichtungen betraf, hatte in letzter Zeit eine sonderbare Lethargie von Tess Besitz ergriffen: Beispielsweise sich nach der Dusche abzutrocknen war ihr schlicht zu viel; noch klatschnaß wickelte sie sich statt dessen in ihren Bademantel ein. Schließlich war der ja auch aus Frottee und erfüllte den gleichen Zweck, sagte sie sich.
    Als sie gerade den Gürtel um die Taille schlingen wollte, erhaschte sie ihr Bild

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