Was man so Liebe nennt
spürte sie, wie das Grinsen schon hinter ihrem Gesicht lauerte und ihre Mundmuskeln zuckten. Unterdrück es, sagte sie sich, und setz ein halb distanziertes, halb saures Gesicht auf — und mit der bestmöglichen Annäherung an diesen Ausdruck blickte sie die Treppe hinab und sah sein Gesicht schon vor sich: ironisch, falls überhaupt reuig, dann auf eine irgendwie parodistische Art, von absoluter Gelassenheit und Sorglosigkeit — und vertraut; weshalb Tess um so bestürzter war, als das Gesicht, das ihr dann entgegensah, besorgt war, sanft, ernsthaft, fast feierlich, ein wenig ängstlich... und Joes.
Tess’ Wohnzimmer hatte etwas Edles, Klassisches. Die Wände waren in jenem dunklen Ocker gestrichen, das in Zeitschriften wie Schöner Wohnen oder Interieurs so vorherrschend ist. Die Einrichtung — ein niedriger afrikanischer Holztisch, ein schmales weißes Sofa, minimales, aber nicht minimalistisches Abstraktes hier und da — wirkte fast, als sei sie für einen Fototermin arrangiert. Nur die vom Boden zur Decke reichenden Fenster fielen ein bißchen aus dem Edelrahmen, da sie nun mal gezwungen waren, sich mit 1970er Metall und Doppelglas gegen das Röhren der Kennington Road zu wappnen. Joe saß auf dem Sessel gegenüber dem Sofa und wartete, daß Tess mit Drinks aus der Küche zurückkam. Er war vorher noch nie in ihrer Wohnung gewesen und merkte, daß er sich — trotz all der anderen Gedanken, die ihm durch den Kopf wirbelten — fragte, ob Geschmack inzwischen ein Gen war, sozusagen zur Erbmasse von Frauen in Tess’ Alter und Klasse gehörte. Er glaubte nicht, daß er irgendeine Mittelschichtsfrau um die dreißig kannte, die sich, wenn es darauf ankam, nicht als Innenarchitektin hätte betätigen können.
Dann wurde er in seinem Sinnieren durch Tess unterbrochen, die mit Whiskys für sie beide neben dem Sessel stand; er hatte sie nicht zurückkommen hören.
»Nur mit Eis, recht so?« sagte sie und reichte ihm ein Glas.
»Ja, prima. Danke...« Joe trank einen Schluck: Jack Daniels, schätzte er. Er war im Grunde kein großer Freund oder Kenner von Harddrinks, zog Bier oder Wein vor, aber Tess hatte kein Bier da, und er hatte sich nicht getraut, sie um Wein zu bitten, warum, wußte er selbst nicht genau, aber es hatte wohl irgendwas mit ihrer Expertenschaft: zu tun. Außerdem, wenn Leute was Gewichtiges zu sagen hatten, tranken sie doch immer so was, oder nicht? — Whisky, oder vielleicht Brandy, um die Nerven zu beruhigen.
»Tut mir leid, daß es so heiß hier drin ist«, sagte Tess und setzte sich aufs Sofa. »Wenn ich das warme Wasser für die Dusche aufdrehe, dann laufen auch die Heizkörper auf Hochtouren.«
»Ach, ist mir gar nicht aufgefallen«, antwortete Joe und hob die Brauen. Natürlich, sie hatte gerade geduscht, und ihre Bemerkung war wohl eine Art Rechtfertigung dafür, daß sie sich nur eine lose schwarze Weste über die weißen Hosen angezogen hatte. Er fühlte sich jetzt, wo sie angezogen war, wesentlich behaglicher. Als er sie im Bademantel antraf, hatte er sofort wieder umkehren wollen. Es machte ihm überdeutlich, daß er sie einfach überfiel und außerdem, wie wenig vertraut sie im Grunde miteinander waren.
»Und...«, sagte Tess nach einer kurzen und leicht verlegenen Pause. »Wie geht’s Emma?«
Joe räusperte sich. »Gut. Ihr geht’s gut.«
Tess nickte. Die Fenster klapperten, ein Laster fuhr vorbei. »Vic müßte jede Minute hier sein — wenn...«
Sie verstummte, weil sie nicht unfreundlich erscheinen, nicht andeuten wollte, daß Joe nur wegen Vic bei ihr vorbeikam. Befreundete Paare kennen sich als Einzelwesen selten so gut, wie sie gern tun, wenn sie zu viert sind — eine Wahrheit, die gern vertuscht wird. Doch die Anspielung auf Vic, den fehlenden Kleister, brachte es so deutlich zutage, daß sie sich noch fremder miteinander fühlten.
Das beklommene Schweigen spornte Joe jedoch an. Da sie sich sonst offenbar nichts zu sagen hatten, konnte er auch gleich zur Sache kommen.
»Tess...«, wie er ihren Namen sagte, spann sie sofort in ein Netz von Bedeutung ein, und als Vorbote der schlechten Nachrichten legte er noch größeren Ernst in seinen Blick.
»Ja?« fragte sie nach einer Weile.
»Hör zu... Es ist so... Ich weiß, was dich bedrückt. Ich weiß, welches Problem du hast.«
Tess zwinkerte. Das Riesengewicht, das sie seit einiger Zeit mit sich herumtrug, fiel ihr plötzlich auf die Füße wie ein Comic-Amboß.
»Ach ja?« sagte sie. Wieder Schweigen. Joe
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