Was man so Liebe nennt
verzog innerlich das Gesicht. Ich bin nicht gut bei so was, dachte er.
»Nun — ich wollte dir bloß sagen — ich bin für dich da. Du weißt schon. Wenn du jemanden brauchst — mit dem du darüber sprechen möchtest. Vielleicht kann ich dir ja helfen.«
Tess setzte ihren Whisky an die Lippen. Das Glas verdeckte auch ihre Nase halb, und eine Weile verharrte sie so, versuchte sich in dem benebelnden Alkoholgeruch zu verlieren. Dann trank sie das Glas mit einem Schluck aus.
»Dann hat Vic es dir also erzählt?« sagte sie und lehnte sich zurück. Aus ihrer Stimme klang eine Mischung aus Groll und Resignation.
»Ähhmm... nein.« Joe war sich nicht sicher, ob er ihr zu diesem Zeitpunkt erzählen sollte, wie er es herausgefunden hatte; er fürchtete, dann stünde er in keinem guten Licht da.
Sie sah ihn an.
»Nein? Was dann — hast du was gesehen? Was bemerkt?«
Joe nickte. Tess stieß ein kurzes, melancholisches Lachen aus — eher ein Prusten durch die Nase. Dann stand sie auf und kam eine Sekunde später mit einer Flasche Jim Beam zurück.
»Noch einen?« fragte sie.
»Ja. Danke.«
Sie füllte sein Glas, voller diesmal, und dann ihr eigenes, noch voller.
»Wie ist es dir gegangen?« fragte Joe.
Tess schüttelte und Kopf und zuckte mit den Schultern.
»Ich weiß nicht recht. Ich war halt ziemlich durcheinander... müde... deprimierter als sonst...«
Joe nickte verständnisvoll. Tess richtete sich auf und sah ihn scharf an.
»Warum bist du hergekommen?« fragte sie stirnrunzelnd. »Ist das nicht...«, und hier lachte sie wieder, noch bitterer, »...ein Vertrauensbruch ?«
Joe fand, daß das eine sonderbare Art war, es auszudrücken, aber andererseits mußte man mit gewissen Störungen rechnen, vor allem sprachlichen.
Außerdem, was seine Schweigepflicht anging, hatte sie schließlich recht.
»Nun... ja. Wahrscheinlich. Aber da ich dich nun mal...«, er brach ab, unsicher, welche Worte er wählen sollte, aber dann machte der Whisky ihm Mut, »...gern habe — sagte ich mir, daß alles andere nicht zählt.«
Tess sah ihm in die Augen: Du hast mich gern? Wirklich? dachte sie. Sie musterte ihn. Joes Physiognomie war für sie immer ein Ausbund an Unerotik gewesen. Alles an Joes Gesicht war »irgendwie«: die irgendwie flache Nase und irgendwie blauen Augen, das irgendwie feste Kinn, die irgendwie aknenarbige Haut, die irgendwie hohe Stirn — sein Gesicht hatte nichts Extremes, und Tess mochte Extreme. Vor Vic hatte sie gern mit häßlichen Männern angebandelt, oder zumindest solchen, die als häßlich galten, weil irgendein extremer Zug ihr Gesicht beherrschte — eine lange Nase, enorme Augen, ein zu breiter Mund. Aber es waren immer Männer gewesen, die ihre Häßlichkeit mit Anstand trugen und noch mehr: Indem sie sie mit cooler Kleidung und Selbstsicherheit kombinierten, gelang es ihnen sogar, daß ihre Häßlichkeit attraktiv aussah — eine Strategie, die das Patriarchat nur Männern vorbehielt. Joes Gesicht, dachte Tess, sah aus, als sei es unfertig, so, als fehlte ihm etwas ganz Entscheidendes. Und vor einiger Zeit, als sie ihn einmal flüchtig betrachtete, war ihr auch eingefallen, was es war: eine Brille. Aber während sie ihn jetzt neu einzuschätzen versuchte — so wie man es tut, wenn jemand, den man vorher nie als sexuelles Wesen wahrgenommen hat, plötzlich etwas zu einem sagt, das als Flirt aufgefaßt werden kann — , fragte sie sich, ob sie vielleicht ungerecht gewesen war, ob sie das bloß so empfunden hatte, weil sie wußte, daß er Wissenschaftler war.
Das Telefon klingelte und riß sie aus ihren Tagträumen. Sie wußte sofort, wer es war, und wunderte sich, wie wenig sie während der letzten Minuten an ihn gedacht hatte, so als hätte Joes Besuch ihre Obsession verscheucht.
»Hallo? Gut, gut...« Sie sah Joe vielsagend an. Er wies auf die Tür, fragte mit seiner Mimik, ob er aus dem Zimmer gehen solle. Sie schüttelte den Kopf.
»Ach wirklich...«, sagte sie. »Was war diesmal das Problem?« Sie sah aus dem Fenster, auf das U-Bahn Schild gegenüber, und mußte daran denken, wie sie als kleines kluges Mädchen immer geglaubt hatte, diese Schilder zeigten einen Querschnitt von Saturn. »Also was — du willst lieber zu Hause bleiben? Okay. Jaah. Wie du willst.« Wieder begegnete sie Joes Blick. »Nein, nichts. Nein, mir geht’s gut. Natürlich. Wie immer. Jaah, wir sprechen uns morgen. By-ee.« Diese letzten Silben kamen in einem spöttischen Singsang heraus. Dann legte sie
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