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Was man so Liebe nennt

Was man so Liebe nennt

Titel: Was man so Liebe nennt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Baddiel
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im Badezimmerspiegel, oder eher ein paar Stellen, Fragmente von sich, die im unregelmäßigen Zickzack des beschlagenen Glases sichtbar waren. Sie ließ die beiden Hälften ihres Bademantels auseinander fallen und betrachtete sich. Ich habe Glück, weil ich so groß bin, dachte Tess oft. Größe, hatte sie herausgefunden, kaschierte vieles — war ein Schönheitsschwindel, aber einer, auf den offenbar alle hereinfielen. All die angeblich »schönen« Frauen auf der Welt waren über einsachtzig, schätzte sie. Man stelle sie sich einen oder gar anderthalb Kopf kleiner vor. Dasselbe Gesicht, dieselben Maße, nur kleiner. Und schon wären sie nicht mehr in der Superschön-Liga. Tess wußte nicht, warum Großsein so viel zählte, aber sie beschwerte sich natürlich nicht.
    Sie betrachtete ihren Körper und fragte sich, was nicht stimmte, was zwischen ihr und Vic verkehrt gelaufen war. Unterschwellig hatte sie manchmal das Gefühl, daß er vielleicht eine Affäre hatte, aber wie sollte sie sich sicher sein? All die normalen Anzeichen funktionierten bei Vic nicht. Er hatte nicht das Interesse an Sex verloren, das konnte er im Grunde auch gar nicht, denn das wäre eine viel zu offenkundige Veränderung gewesen. Interesse an Sex war keine Komponente seines Wesens, es durchdrang sein ganzes Sein, und sich Vic ohne Sex zu denken hieße, sich einen völlig anderen Menschen vorzustellen. Er war natürlich oft zerstreut, aber das war er schon immer gewesen, in Gedanken immer halb woanders oder nirgendwo.
    Tess haßte ihr Mißtrauen. Zum Teil natürlich, weil ihr die Vorstellung, daß Vic eine Affäre hatte, nicht gefiel, aber auch aus anderen Gründen: Weil sie die Genugtuung all jener voraussah, die sie von Anfang an vor ihm gewarnt hatten; weil sie lieber handelte als grübelte, aber zum Handeln brauchte man Gewißheit; und außerdem weil es — wie sie sich eingestand — so verdammt weiblich war. Was der Hauptgrund dafür war, warum sie Vic nicht direkt fragte. Denn welche klischeehaftere Frage kann eine Frau stellen — abgesehen vielleicht von »Woran denkst du?« und »Soll ich dir den Pickel da ausdrücken?« — als »Betrügst du mich?«. Und wenn die Anwort dann heißt »Nein. Wie kommst du denn darauf?«, was sollte sie anders erwidern als das abgestandenste, ausgeleiertste: »Ach, es ist bloß so ein Gefühl, das ich in letzter Zeit habe...«
    Tess betrachtete sich genauer. Auch den Großbonus mal abgezogen, ich sehe trotzdem gut aus, sagte sie sich. Sie hatte ganz allgemein eine positive Einstellung zu sich und ihrem Körper, alles Selbstherabwürdigen und Selbstzerfleischen lag ihr nicht. Aber während sie in den Spiegel guckte, löste sich der Wasserdampf allmählich auf und mit ihm — zum ersten Mal — Tess’ Selbstvertrauen, als sie sich jetzt deutlich im kalten, nackten Licht des Badezimmers sah. Nein, dachte sie, ich sehe nicht gut aus: Ich sehe alt aus. Ich, kinderlos, habe Brüste wie eine zehnfache Mutter aus Afrika, meine Haut ist schlaff. Tess kämpfte dagegen an, kämpfte hart gegen dieses negative Selbstbild an, aber während der Badezimmerventilator auch noch den letzten Rest Wasserdampf vertrieb, hatte sie das Gefühl, daß ihr früheres Bild von sich ein Schwindel war — buchstäblich durch einen Weichzeichner gesehen.
    Sie guckte auf ihre Armbanduhr, die auf dem Waschbeckenrand lag, und Wut stieg in ihr auf: Wut auf die Zeit an sich und Wut auf die Uhrzeit: 7.15. Er verspätete sich noch mehr als üblich. Warum? Wieder kämpfte sie gegen ihre mißtrauischen Gedanken an, aber vergeblich. Was tat er? Wo war er? Wenn er in einer Minute nicht da ist, dann bin ich mir sicher, daß er eine andere hat — und dann läutete die Türklingel.
    In dem Moment wurde Tess klar, daß sie im Grunde überhaupt nicht mehr damit gerechnet hatte, daß er noch auftauchte: Warum hätte sie sonst so lange herumgestanden, statt sich fertig zu machen? Etwas in ihr hatte gewußt, daß es egal war. Trotzig beschloß sie, auch jetzt weiter keine Anstalten zu machen, schlang sich schnell ein Handtuch ums Haar, verließ das Bad und drückte auf den Knopf der Gegensprechanlage an der Flurwand, ohne auf seine Stimme zu warten. Mit verschränkten Armen wartete sie dann am oberen Treppenabsatz, trotz ihres Ärgers war sie bereits halb wieder versöhnt, hörte förmlich schon, wie sie beide später darüber lachten, wie sie ä la Cartoon-Ehefrau hier oben stand und auf ihre säumige bessere Hälfte wartete. Bei dem Gedanken daran

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