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Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman

Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman

Titel: Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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ab oder noch dampfende Innereien heraus. Über dem Ort des Schlachtens hing ein Geruch von Blut und Tod, der unzählige Fliegen anlockte.
    Das Tier wurde recht schnell zerlegt, und als sie zum Lagerplatz zurückkehrten, trug jeder von ihnen, so viel er konnte. Nur die Pfoten und die Wirbelsäule mit den Rippen ließen sie zurück. Nach der kräftezehrenden Wanderung durch die Wüste mit ihrem glasigen Sand war der Überfluss an Fleisch willkommen. Plattnase trug mit triumphaler Miene den Kopf, und als er die anderen Gruppen von Jägern mit leeren Händen zurückkehren sah, wurde er noch selbstbewusster.
    Sie hatten Lagerplatz und die Feuerstelle noch nicht erreicht, da ließ der Duft von garendem Fleisch bei Narcisse das Wasser im Mundzusammenlaufen. Natürlich würde er abwarten müssen, bis sich die Männer alle genommen hatten, doch angesichts dieses Festmahls konnte ihm nicht einmal Landstreicher seinen Anteil verweigern.
    Sie blieben einen ganzen Tag lang am Lagerplatz, und wenn sie nicht gerade schliefen, aßen sie.
    Bei Anbruch des folgenden Tages machten sie sich wieder auf den Weg und wanderten noch einen halben Tag lang Richtung Westen. Vormittags bemerkte Narcisse, wie sich am Horizont etwas erhob, das zunächst wie eine Düne aussah, sich aber beim Näherkommen als ein riesiger Felsbrocken entpuppte, der so hoch war wie ein Berg und so weiß wie Milch.
    Dieser Berg hatte genau die Form eines auf der Seite liegenden, zur Hälfte im Boden versenkten Eis. Die glatte Oberfläche und weißrosa Farbe waren wie bei einer Muschel. Kein Baum und kein Strauch wuchsen darauf, und es gab keine Vertiefungen, in denen sich Erde hätte ansammeln können. Nur eine einzige Furche, die wie ein Weg aussah, schlängelte sich von unten bis nach oben. Dieser riesige Felsbrocken, der in nichts irgendeinem Fels der Umgebung ähnelte, wuchs wie ein Fremdkörper aus dem roten sandigen Boden, auf dem er lag.
    Für jemanden aus der Vendée war der Berg sehr hoch: mehr als hundert Meter, und die steilen Abhänge verstärkten den Eindruck, am Fuß einer Klippe zu stehen.
    Drei Tage lang waren sie Richtung Westen gewandert und hatten dabei mindestens zehn Meilen zurückgelegt. Von einem Schiff aus war der Berg nicht zu sehen, und er war auf keiner Karte verzeichnet. Konnte er sich tatsächlich noch verlorener fühlen als am Strand?
    Es war bereits Abend, als sie an den Fuß des Berges gelangten. Er lag inmitten einer wasserarmen Ebene, die von kargen Büschen bewachsenwar. In einer seichten Mulde entdeckte er im letzten Augenblick, inmitten eines großen Ovals aus grünem frischem Gras, einen Hain mit ausladenden Trauerweiden oder deren australischen Verwandten. Beim geringsten Windhauch raschelten ihre Blätter metallen. Dieser merkwürdige Ort wurde ihr Lagerplatz. Narcisse bemerkte, dass alle noch weniger und noch leiser sprachen als gewöhnlich. Vor allem die Kinder, auch die größeren im Alter von Waiakh, wirkten beeindruckt.
    Den ganzen folgenden Tag über sprach Chef – warum hatte er den Stammesältesten so genannt? Bei Aufgang der Sonne hockte er sich auf die Fersen und murmelte ununterbrochen vor sich hin, es wirkte nicht wie Improvisation oder eine unterhaltende Rede, sondern als würde er etwas Bestimmtes vortragen. Die anderen hockten sich neben ihn, hörten einen Augenblick zu, entfernten sich und kehrten unaufgefordert und ungeordnet zurück. Der Älteste hielt nicht inne, weder um zu trinken, noch um zu essen, und auch nicht, als die Sonne am höchsten stand. Zwölf Stunden lang fügte er, ohne auch nur einmal zu zögern, einen Satz an den anderen. Er zeigte keine Gefühle, weder Freude noch Angst noch Wut oder Überraschung … Vielleicht war es die Ilias oder die Odyssee dieses Stammes, oder irgendeine Liste von Vorfahren, Ereignissen, Orten oder Tieren. Narcisse erinnerte sich, dass er in einem ähnlich gleichförmigen Tonfall die Liste der französischen Verwaltungsbezirke mit ihren Unterverwaltungen und das kleine Einmaleins heruntergebetet hatte – obwohl ihm der Lehrer dabei Schläge mit dem Lineal versetzte, war er schnell damit fertig gewesen …
    Als die Sonne am Horizont untergegangen war, verstummte Chef plötzlich. Und jeder ging wie an jedem Abend seinen Verrichtungen nach.
    Als die Nacht hereingebrochen war, sammelten die Frauen die Kinder ein und schoren ihnen ungewöhnlich sorgfältig, ohne einWort und wie in sich gekehrt, die Köpfe. Die Alte machte mit Narcisse das Gleiche. Als sie fertig war, fuhr

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