Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman
mehrere Silben, die ihm das untersagten. Resigniert wartete er darauf, dass sie ihm die letzten Reste anbieten würde, die noch an der Wirbelsäule hingen.
Dann streckte sie sich ohne ein weiteres Wort im Sand aus und schlief ein.
Am wolkenlosen, pechschwarzen Himmel blinkten unzählige Sterne – jene, die auch während einer Nachtwache Gesellschaft leisteten, wenn eine leichte Brise gegen die Flanken des Schoners drückte, ihn langsam vorantrieb und es nicht viel zu tun gab: Man konnte leise miteinander plaudern oder beim Anblick des Sternenhimmels vom zurückliegenden oder nächsten Landurlaub träumen. Genau jetzt, in diesem Augenblick, waren einige seiner Kameraden der Saint-Paul wach und genossen die milde tropische Nacht. Dachten sie an ihn? Würden sie nach ihm suchen?
Diese Fragen waren zu schmerzhaft, und er verbannte sie. Er lag auf dem Rücken und überdachte seine Lage. Sie war besser als noch am Vortag. Er hatte getrunken, er hatte gegessen – zwar nicht genug, um satt zu sein, aber genug, damit sich in seinem Magen eine angenehme Wärme verbreitete und der Hunger etwas weniger nagte. Er konnte das Verhalten der Alten nicht deuten, verstand nicht, was sie duldete und was nicht. Aber das war unwichtig. Er würde überleben.
Das Schiff würde zurückkehren. Der Kapitän war Richtung Java gesegelt, um die Kranken zu retten und Proviant zu laden, und nun würde er wieder auf Südkurs gehen. Das bedeutete zwei Wochen Rückreise. Zwei Wochen Warterei. Er würde essen, was die Alte ihm vorsetzte, Echsen, Fisch, Muscheln, Grünzeug. Sie wusste, wo es Wasser gab.
Man würde die zwei Fehlwochen von seiner Heuer abziehen. Während ein Teil der Mannschaft feixte, würde der Steuermann mit hinterhältigem Lächeln Bögen von Papier vollkritzeln und ihm vorrechnen, wie viel dieses Abenteuer ihn kostete. Danach würde er kleinlaut sein und sich nur noch durch tadelloses Benehmen hervortun: Er wäre fortan der gefügigste, gehorsamste und eifrigste Matrose auf dem ganzen Schiff sein …
Als er aufwachte, stellte er fest, dass die Alte fort war. Wahrscheinlich durchstreifte sie auf der Suche nach Nahrung den Busch. Ohne ihre Rückkehr abzuwarten, ging er, nachdem er an einigen kalten Zwiebeln geknabbert hatte, zum Strand.
Kein Schiff am Horizont. Weil er schon darauf gefasst gewesen war, traf es ihn nicht sehr. Allerdings war zu seiner Überraschung der große Pfeil, den er mit Felsbrocken und Korallengestein mühevoll im Sand zusammengefügt hatte, verschwunden. Alle Teile lagen verstreut und formten kein Zeichen mehr. Von einem Schiff aus, selbst bei einer Landerkundung war nur noch umherliegendes Gestein zu erkennen.
Die Gezeiten konnten sein Werk nicht zerstört haben, er hatte darauf geachtet, es oberhalb der Flutgrenze anzulegen, selbst höchste Wellen hätten es nicht erreichen können. Die Alte konnte es ebenso wenig gewesen sein: Sie hatte nicht die Zeit dazu gehabt, und vor allem besaß sie nicht die Kraft. Die größten Brocken wogen so viel wie ein volles Wasserfass, nur mit der Kraft der Verzweiflung war es ihm gelungen, einige von ihnen zu bewegen – kurzatmig, mit gespannten Rückenmuskeln, vor Anstrengung zitternden Beinen, die Arme wie gelähmt von der Last.
Also musste es außer der Alten noch andere Küstenbewohner geben. Das hier war der Beweis. Wenn er ehrlich war, hatte er es von Anfang an gewusst. Mensch und Tier können nicht in absoluter Einsamkeit überleben. Diese Frau hatte Verwandte, mit denen sie Sprache und Lebensweise teilte – und unter ihnen waren kräftige Männer, die in der Lage gewesen waren, sein Werk zu zerstören.
Wo steckten sie? Wahrscheinlich wussten sie von seiner Existenz und hatten die Alte ausgesandt, um seine Absichten auszuforschen. Die Alte war nichts mehr wert, sie konnten es sich leisten, sie zu opfern … Sie beobachteten ihn von Weitem. Doch wenn sie ihm freundlich gesinnt waren, warum hielten sie sich dann versteckt? Warum hießen sie ihn nicht alle miteinander willkommen, Frauenund Männer, Alt und Jung, und führten ihn in ihr Dorf, um ihm zu helfen?
Warum hatten sie den Pfeil zerstört? Die Antwort lag leider auf der Hand: um zu verhindern, dass andere Weiße das Signal richtig deuten, der Richtung folgen, ihn finden und wieder mitnehmen würden.
Alle diese offenen Fragen verstärkten seine Unruhe. Um sich gegen die Wilden zu verteidigen, blieb ihm nur noch sein Schiffsmesser. Zahlenmäßig waren sie ihm haushoch überlegen – mit oder ohne
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