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Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman

Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman

Titel: Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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bog er nach rechts und gelangte, die Sonne im Rücken, zur äußersten Nordspitze der Bucht, zu jenem kleinen Felshügel, auf den er am zweiten Tag gestiegen war. Aber keine Spur von der Alten.
    Sie behielten ihn wahrscheinlich im Auge. Sie hatten sein Orientierungsvermögen bemerkt. Sie überwachten ihn, seit er den großen Pfeil zusammengefügt hatte. Durch die Plackerei an jenem Tag hatte er sich ins Verderben gestürzt. Wäre er nicht besser in seinem Unterschlupf zwischen den Büschen geblieben und hätte abgewartet?
    Doch wenn sie ihn nicht am Strand vermutet hätten, hätten sie auch niemals die Hexe mit ihrem vollen Wassersack geschickt. Also war sein Geschufte mit den Steinen kein Fehler gewesen. Plötzlich wurde ihm etwas klar. Dass sich der Schoner mit geblähten Segelnder Bucht genähert und vor ihr gelagert hatte, dass man die Schaluppe zu Wasser gelassen und mit einem Teil der Mannschaft den Strand abgesucht hatte – all das war viel auffälliger gewesen als er und sein Zeichen im Sand.
    Die Wilden hatten vom ersten Augenblick an jeden ihrer Schritte belauert. Sie waren von den weißen Segeln aufgeschreckt worden, von dem hölzernen Ungetüm, das in die Bucht eindrang, von den Männern mit ihrer merkwürdigen Hautfarbe, ihrer Bekleidung, den lauten Stimmen. Sie hatten sich versteckt und ihr Tun beobachtet: die neun Seeleute, die sich aufteilten, in Gruppen nach etwas suchten, wieder zusammenkamen und zurück an Bord gingen; das Aufziehen der Fock, das hölzerne Ungetüm, das sich bewegte, fortsegelte, kleiner wurde, endlich am Horizont verschwand. Ein einsamer Weißer, der am Strand umherlief, in die Talmulde hinabstieg, dort eine Hütte errichtete, seine Tage damit zubrachte, die Bucht zu überwachen. Das Ungetüm kehrte nicht zurück, der Weiße wurde mit jedem Tag schwächer.
    Sie hatten ihn belauert und leiden lassen. Als er entkräftet und wehrlos war, hatten sie die Alte vorausgeschickt. Und er hatte sie für eine Wohltäterin gehalten!
    Kurz freute er sich über seinen Scharfsinn. Aber brachte der ihn weiter? Sollte er nach seinen Beobachtern suchen? Es war zwecklos, einen Baum zu erklimmen oder im Busch herumzustreifen. Sie würden sich zeigen, wenn ihnen danach war. Und wenn nicht, würden sie unsichtbar bleiben. Sie mochten ihm die Alte schicken oder auch nicht. Mochten ihm das rettende Nass bringen oder eine vergiftete Frucht. Er hatte keine Möglichkeit, die Regeln ihres grausamen Spiels zu durchschauen, er war ihnen ausgeliefert. Und so setzte er sich unter einen Baum.
    Im Hof des Pfarrhauses hatten er und seine gleichaltrigen Freunde vor dem Katechismusunterricht manchmal mit einem Mäuschen gespielt, das von einer Katze herbeigebracht worden war. Siebildeten einen Kreis, und das Tierchen rannte mal gegen einen Stiefel, mal gegen das Tor des Gemüsegartens oder gegen ein Brett, das sie ihm in den Weg gelegt hatten. Die Hürden wurden immer aufs Neue verschoben, und die Maus versuchte alles, um auszubrechen, stieß aber immer wieder gegen eine Mauer. Sie gab nicht auf, seine Peiniger mussten wachsam sein – wehe dem, der das Tierchen laufen ließ! Wenn der Küster läutete, überließen sie es der Katze.
    Jetzt war er die Maus.
    Da, die Alte. Er hatte ihr Kommen nicht bemerkt, sie marschierte rasch auf den Busch zu. Er holte sie ein. Sie schenkte ihm keine Aufmerksamkeit und verlangsamte nicht ihren Schritt.
    «Wohin gehst du, alte Hexe?»
    Sie tat wie taub, als er zu ihr sprach. Wütend schrie er um sich in den Busch, zum Hügel, Richtung Strand:
    «Ich weiß, dass ihr da seid! Ich weiß, dass ihr mich seht! Zeigt euch! Warum versteckt ihr euch? Ich habe alles begriffen!»
    Sie war während seines Geschreis weitergegangen und verschwand bereits zwischen den Bäumen. Er rannte ihr nach und wollte sie am Handgelenk packen, damit sie stehen bliebe. Sie wich seinem Griff aus, ohne dass seine Finger sie auch nur gestreift hätten. Sollte er sie zu Boden werfen, um sie zum Anhalten zu zwingen? Und was täte er dann?
    Er begann, neben ihr herzulaufen. Näherten sie sich etwa einer Wasserquelle? Einem Ort, an dem es reichlich Fleisch gab? Er war immer noch hungrig, und ob es ihm gefiel oder nicht, diese Frau war seine einzige Chance, wenn er essen wollte.
    Nach zwei Stunden begann er, unruhig zu werden. Sie hatten den Strand verlassen und entfernten sich nun von der Küste. Die Buschebene bot keinerlei Orientierungsmöglichkeiten. Sie war völlig anders als die Orte, an denen er als Kind totes

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