Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman

Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman

Titel: Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
Vom Netzwerk:
Messer. Seine einzige Waffe war sein Verstand, auch wenn er noch nicht wusste, wie er ihn einsetzen sollte. Er klammerte sich an diese innere Eingabe: Seine Intelligenz würde ihn vor den nackten Wilden schützen.
    Im Augenblick ließen sie ihn am Leben. Von nun an würde er auf der Hut sein. Sollte er den Pfeil wieder zusammensetzen? Das bedeutete zwei Stunden harte Arbeit in der Sonne, und sie würden wieder alles zerstören, sobald er sich entfernte. Bei diesem Spiel – er allein gegen einen ganzen Stamm – konnte er nur den Kürzeren ziehen. Und indem er erneut einen Pfeil bildete, gab er ihnen zu verstehen, dass er sich darüber im Klaren war, dass sie sich ganz in der Nähe versteckt hielten und ihn daran hindern wollten, seine Nachricht in den Sand zu schreiben. Es war besser, wenn sie ihn für ahnungslos hielten.
    Was wusste er von den Wilden im Pazifik? Die Geschichten, die im Zwischendeck kursierten, waren ungenau, widersprüchlich und oft schlichtweg unwahrscheinlich gewesen. Wenn er doch nur aufmerksamer gewesen wäre und den älteren Matrosen, die auf dem weiten Ozean so viel herumgekommen waren, Fragen gestellt hätte …
    Alle waren sich darin einig, dass der Osten das Gegenteil vom Westen war. Der östliche Pazifik brachte alle Seeleute zum Schwärmen, ganz so wie einst Tahiti: freundliche Wilde, einladende Frauen,ausreichend Nahrung und Süßwasser, gute Ankerplätze. Diese traumhaften Inseln übten eine derartige Anziehungskraft aus, dass die Seeleute scharenweise desertierten und meuterten. Wie sollte man auch den Tänzen und Gesängen von Mädchen mit nackten Brüsten und honigfarbener Haut widerstehen können?
    Der westliche Pazifik erweckte bei Weitem nicht die gleichen Träume. Barbarische Stämme, schwarz wie die Hölle und immer auf Kriegspfad. Mit List und Tücke und Lanzen verteidigten sie ihre hässlichen Mädchen, ihre Hühner und ihre Feldfrüchte. Die Übergriffe gegen europäische Seeleute zeichneten sich durch Plötzlichkeit und Brutalität aus. Sie endeten mit einem großen kaï-kaï. Immer gab es einen Schiffsjungen, der fragte:
    «Was ist ein kaï-kaï?»
    «Das ist wie ein riesiger Eintopf, in dem sie die im Kampf getöteten Gegner kochen.»
    Über den Nordosten von Australien wusste er nichts, doch die geografische Nähe und die Hautfarbe der alten Frau ließen ihn an den Westpazifik denken. Dass Gefahr bestand, wurde durch das geheimnisvolle Verschwinden des Schiffs La Pérouse bestätigt, das zuletzt in Sydney, dem nächsten Hafen, haltgemacht hatte.
    Schlimmer als die Angst vor dem Tod, grausamer als die Aussicht, getötet zu werden, herzzerreißender als die Vorstellung, dass sein Leib im Staub dahinsiechen und wilden Tieren zum Opfer fallen könnte, war der schreckliche Gedanke, bei einem großen Gelage von Wilden verzehrt zu werden.
    Was blieb ihm anderes, als zu der Alten zurückzukehren? Schweren Herzens schlug er wieder den Weg zur Senke ein. Bei dem Wäldchen, wo sie geschlafen hatten, war sie nicht. Er ging bis in die Talmulde hinab, wo sie die Zwiebeln ausgegraben hatte. Niemand zu sehen. Genau genommen war sie seit dem Vorabend verschwunden.
    Hatte sie ihn im Stich gelassen? Weshalb sollte sie so grausam sein? Wozu ihm zuerst aus der Not helfen, zu trinken und zu essengeben, wenn sie ihn schließlich alleine ließ und in diesem Busch, dessen Geheimnisse er nicht kannte, dem sicheren Tod auslieferte? Falls sie und die ihren ihn töten wollten, aus welchem Grund griffen sie ihn dann nicht einfach an, warum ließen sie ihn nicht einfach verdursten und verhungern?
    Diese Fragen brachten ihn nicht weiter. Er musste die Alte finden, und das würde ihm sicher nicht gelingen, indem er hier, am Grund dieses Lochs, sein Schicksal beklagte. Hoffnungslosigkeit und Raserei überkamen ihn wechselweise in sehr langen Wogen. Er kletterte die Hänge der Senke hinauf und erreichte wieder die Ebene, fand sich inmitten verkrüppelter Bäume mit grauer Rinde und metallisch-grünen Blättern, die kaum Schatten spendeten. Ringsum war es still. Auf dem fast ebenen Grund aus Sand und Korallenstaub gab es keine Fußabdrücke. Er versuchte, auf einen etwas höheren Baum zu klettern, doch anstatt eine bessere Aussicht zu bekommen, zerriss er sich nur die Hose.
    Wenn er sich einfach einen Weg durch die Bäume bahnte, würde er sich verlaufen, das war gewiss. Er orientierte sich an der Sonne und folgte einer Route, die seinem Gefühl nach parallel zur Küste verlief. Nach ungefähr einer Stunde

Weitere Kostenlose Bücher