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Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman

Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman

Titel: Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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allem anderen. Unterdessen stolzierte mein Hausdiener in einem Aufzug umher, der jeder Vorstellung von Sträflingskolonie und ihrer strengen Disziplin spottete. Es war nicht akzeptabel, dass er sich auf diese Weise über meinen glücklosen Landsmann erhob. Nichts durfte den Eindruck erwecken, dass Narcisse dem englischen Verbrecherunterstellt sei. Ich wies Bill deshalb an, sich bis auf seine Beinkleider auszukleiden.
    An seiner linken Schulter kam eine tätowierte Blume zum Vorschein, die zuvor durch sein Hemd verdeckt gewesen war. Als ich die beiden Männer so nebeneinander sah, beide in gleichen Kleidern, beide tätowiert, begann ich, über die Zufälle des Lebens und die Gesetze des Schicksals nachzusinnen. Es hätte auch Bill der Schiffbrüchige sein können und Narcisse ein Mitglied der Besatzung, welche ihn aufgefunden hat.
    Noch am selben Nachmittag wies Bill mich darauf hin, dass mein Schützling in das Beinkleid uriniert hatte. Sein auffällig unterwürfiger Ton ließ dabei keinen Zweifel am Hintersinn: Er wollte andeuten, dass Narcisse es nicht verdiene, wie ein Erwachsener behandelt zu werden, da er sich auf der Stufe eines bettnässenden Kleinkindes befinde. Ich war im ersten Moment erschüttert. Konnte es sein, dass Narcisse geisteskrank oder blödsinnig war? Nicht wie ein gewöhnlicher Dorftrottel – der wäre im Dorf geblieben und kein Kapitän der Welt hätte ihn angeheuert –, sondern wie jemand, den es in seine Kindheit oder sogar hinter diese zurückgeworfen hat. Hatte er vielleicht einen Schlag auf den Kopf erhalten? Dem Garnisonsarzt war keine Narbe aufgefallen. Hatte er im Exil vielleicht zu große Verzweiflung über seine Lage ertragen müssen? War sein Verstand mit dem Schiff gekentert, oder hatte er ihn einige Monate darauf verloren?
    Entgegen Bills Unterstellung liefert mir Narcisse auf seine Art täglich neue Beweise für seine Intelligenz. Die Sprache ist zwar weiterhin eine Hürde, doch wir behelfen uns mit Gesten. Er bemüht sich mit ebenso viel Eifer wie ich darum, unsere Verständigung zu verbessern. Sein beherrschtes Verhalten, sein Interesse an allem, was wir unternehmen, seine Lernfähigkeit – all dies belegt, dass er den Verstand eines Erwachsenen besitzt, einen uns zwar fremden, jedoch völlig gesunden Verstand. Ich habe nach wie vor große Hoffnung, ihn in unsere Welt zurückzuholen. Wenn er sich einschmutzt, dann nurweil er unsere Gebräuche verlernt hat. Es gilt hier mit derselben Geduld und Behutsamkeit vorzugehen wie in anderen Belangen auch. Ich wies Bill also an, ihm frische Kleider zu geben und dann zu zeigen, wie man, ohne sich einzunässen, uriniert. In diesem Augenblick, da ich selbst unzählige Einzelheiten zu bedenken hatte, wirkte nichts komischer als Bills betretene und ungläubige Miene – er gehorchte dennoch und entfernte sich mit allerlei Flüchen auf den Lippen. Die Lektion hatte Erfolg, Narcisse passte sich umstandslos unseren Gewohnheiten an.
    Selbstverständlich ist die Sprache das Allerwichtigste. Vor Ankunft in dieser Klause hatte ich unseren Landsmann knapp eine Woche lang morgens wie abends im Gefängnis besucht, um auf Französisch zu ihm zu sprechen. Ich wusste nicht recht, wie ich ihm beim Wiedererlernen der Muttersprache helfen sollte, und er war dabei auch keine große Hilfe, blieb völlig stumm. Ich nahm an, er müsse sich nur wieder an die einst gewohnten Laute gewöhnen, damit sich seine Erinnerungen Bahn brechen. Ich setzte mich, weit entfernt von den Wächtern, neben ihn und erzählte alles, was mir durch den Kopf ging. Doch ich bin nicht sehr gesprächig, und bald fiel mir nichts mehr ein. Der Gouverneur stellte mir alle französischen Werke seiner Bibliothek zur Verfügung, es waren ganze drei. Sollte ich Narcisse aus Grundelemente der Mathematik für Infanterieoffiziere vorlesen oder aus Erinnerungen aus Italien für die Frau von Welt?
    Blieb nur der Band mit ausgewählten Versen von Racine. Jeden Nachmittag rezitierte ich aus der Phèdre den Bericht des Theramenes, Athalias Traum, die Leiden der Berenize und die Ahnungen der Agrippina. Auch wenn Narcisse die Qualen dieser Figuren nicht verstand, so schien er doch empfänglich für den Rhythmus der Alexandriner und die Eleganz der Sprache.
    Bei jeder Gelegenheit nannte ich unsere Vornamen, Narcisse und Octave, auf dass er sich diese einpräge. Als wir dann den erstenMorgen in unserer Sommerfrische verbrachten, begrüßte ich ihn wie gewohnt mit:
    «Guten Tag, Narcisse.»
    Er schluckte,

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