Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman
sah mich lange an und murmelte dann mühsam:
«’Tave.»
Dieses ’Tave zu hören, es endlich zu hören, entlohnte mich großzügig für meine vorausgegangenen Mühen. In die Reihe der Vornamen hätte ich nun auch Bill aufnehmen können, doch ich mahnte mich zur Vorsicht: Bill sprach kein Französisch, und ich fürchtete, dass der Gebrauch des Englischen Narcisse überfordern würde. Er war noch nicht bereit für babylonisches Sprachgewirr. Deshalb bat ich den Sträfling, niemals das Wort an Narcisse zu richten, sondern sich ausschließlich mit Gesten zu verständigen.
Narcisse war in der Lage, meinen Vornamen zu sagen – und zwar nicht wie ein Papagei, sondern indem er das Gesagte verstand. Ich deutete auf einzelne Gegenstände und benannte sie, auf dass er mir nachspräche: Himmel, Meer, Wasser, Gras, Fels. Vergebens. Aufmerksam folgte er meinem Finger und schaute auf das, was ich ihm zeigte, lauschte dem jeweiligen Wort und blieb stumm.
Nach dem Mittagessen wurde der Unterricht fortgesetzt. Was sollte ich ihm vorsprechen? Ich sagte unsere Namen, und er wiederholte sie. So kamen wir nicht voran. Weitere Versuche mit Gegenständen aus der Umgebung blieben erfolglos. Entmutigt seufzte ich, legte theatralisch die Fingerspitzen an meine Lippen und sagte mehr zu mir selbst als zu ihm:
«Mein armer Narcisse, ich gebe die Hoffnung auf, jemals einen Satz aus deinem Mund zu hören.»
«Mund», wiederholte er und ahmte mich dabei nach.
Er wiederholte auch «Kopf» und «Arm», scheiterte aber an «Rücken» und «Bauch». Ich habe seine täglichen Fortschritte minutiös in meinen Heften festgehalten. Nach einer Woche beherrschte er über zwanzig Wörter.
Diese Details sollen Sie, Monsieur le Président, von den Fähigkeiten dieses jungen Mannes überzeugen. Er ist nicht schwachsinnig, da bin ich mir nun vollends sicher. Er lernt unsere Sprache nicht wie ein Kleinkind oder ein Fremder: Er findet sie in sich selbst wieder. Narcisse entdeckt, was er im Grunde längst weiß, aber an den Stränden Australiens vergessen hat. Mir ist noch unklar, welche Schlüsse ich daraus ziehen soll. Der Fall ist so einzigartig, dass ich ihn so ausführlich wie möglich festhalten möchte. Mit Ihrer Hilfe will ich den Wissenschaftlern das Faktenmaterial für entsprechende Theorien liefern.
Ich hoffe, dass in ein paar Wochen Sprache und Gedächtnis wieder so weit hergestellt sein werden, dass uns Narcisse seine Geschichte und die seines Schiffbruchs selbst erzählen kann. Durch ihn werden wir alles über das Leben des Stamms erfahren, der ihn aufgenommen hat. Zurückgezogen in ein stilles Arbeitszimmer, werde ich ihn ungestört ausfragen und dabei mühelos nachvollziehen, an welchen Orten er sich während seines Exils aufgehalten hat; von dieser geistigen Reise werde ich eine Vielzahl erstaunlicher, nie zuvor gemachter Beobachtungen mitbringen.
Allerdings gibt es meiner Ansicht nach ein weiteres Rätsel. Narcisse hat keine Silbe mehr in jener Sprache gesprochen, in der er auf der John Bell noch gejammert hat. Er muss sich all die Jahre in dieser verständigt haben und somit zumindest Grundkenntnisse in der Sprache der Wilden besitzen. Doch er benutzt sie nicht mehr, nicht einmal unwillkürlich. Entweder er schweigt, oder er entdeckt mit mir französische Vokabeln wieder. Wie aber soll ich ohne ihn ein Wörterbuch für den Nordosten Australiens erstellen, das die Sprachen der dortigen Ureinwohner umfasst? Dieses für Seeleute und Missionare so nützliche und meiner Meinung nach auch leicht zu bewerkstelligende Projekt kann derzeit nicht begonnen werden.
Bitte sehen Sie mir die mangelnde Ordnung meiner Gedanken nach. Die Schaluppe wird in einer Stunde ablegen und das Schiff nachEuropa heute Abend auslaufen. Ich sende Ihnen diesen neuerlichen Bericht auf die Gefahr hin, Sie damit zu belästigen, und erwarte mit Spannung Ihre Antwort, insbesondere Ihre Ratschläge und Hinweise zu meinem weiteren Vorgehen. Sie haben recht – diese Angelegenheit beschäftigt mich mehr, als anfangs vorauszusehen war.
Erlauben Sie mir eine letzte Frage. Für mich ist das Schicksal von Narcisse einzigartig, mir ist keine andere Geschichte, kein anderes Abenteuer auf See bekannt, das mit seinem vergleichbar wäre.
Doch ist dieser Fall wirklich singulär? Möglicherweise wissen Sie oder die Mitglieder Ihrer Gelehrtengesellschaft von einem anderen, der als Präzedenzfall oder zum Vergleich herangezogen werden könnte, oder es findet sich etwas in Ihren
Weitere Kostenlose Bücher