Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman
bemerkte er, wie die Alte seine Kleidungsstücke auflas und damit Richtung Busch verschwand.
Es war alles so schnell gegangen. Warum hatten sie ihn geweckt und gewaltsam entkleidet? Er hatte keinen einzigen Schlag erhalten. War das hier vielleicht ein Spiel, irgendein schlechter Scherz? Weder zu Hause noch an Bord hatte er sich je einem anderen Menschennackt gezeigt – mit Ausnahme der Hafenhuren, aber auch denen nur im Zwielicht und ganz kurz. Obwohl bei der Szene keine Frauen zugegen und seine Angreifer gleichfalls nackt gewesen waren, fühlte er sich erniedrigt, gedemütigt, in seiner Ehre verletzt.
Sie hielten ihn immer noch fest, während er versuchte, sich loszumachen. Würde es ihm gelingen, könnte er der Alten nachrennen und sich seine Hose wiederbeschaffen – und vielleicht das Messer an seinem Gürtel. In jedem Fall aber seine Hose.
Zwei Hände legten sich um seine Schläfen, hoben seinen Kopf und drehten ihn nach rechts. Er versuchte, gegen die Kraft anzukämpfen, die seine Nase in den Staub drückte. Wie eine Welle überkam ihn Angst: Hatten sie ihn ausgezogen, um ihn zu töten, um ihn abzuschlachten, um ihn vor dem Verzehr ausbluten zu lassen?
Ein Schmerz traf ihn so unversehens und gewaltsam, dass er fast ohnmächtig geworden wäre. Man ließ ihn los, und er presste schreiend seine Hand ans linke Ohr, krümmte sich zusammen. Blut rann seinen Hals entlang. Fingerspitzen betasteten die Stelle, von der aus sich der Schmerz wie ein Feuer ausbreitete. Man hatte ihm das Ohr abgerissen, auf jeden Fall das Ohrläppchen, an dem er, nicht ohne Eitelkeit, einen vergoldeten Ohrring aus Messing getragen hatte.
«Ich hätte ihn euch doch freiwillig gegeben», schluchzte er vollkommen verzweifelt. «Ihr hättet mich nur fragen müssen, ich hätte ihn abgenommen …»
Die Wilden hatten sich entfernt. Etwas in seinem tiefsten Inneren war zerbrochen, und damit ihn das Leid nicht überwältigte, sprach er weinend weiter, während seine Finger das ausgefranste Ohr umklammerten, um das Blut zurückzuhalten.
«Warum seid ihr so grausam? Lasst mich gehen … oder tötet mich auf der Stelle, aber hört auf, mich zu quälen … Kein Mitleid habt ihr … Der Ohrring ist nicht einmal aus Gold … Ich habe euch nichts getan …»
Einige Zeit heulte er wie ein Kind, schniefte und jammerte. Er hatte aufgegeben, alles war ihm nun gleichgültig. Zugleich breitetesich der Schmerz nach allen Seiten aus. Nichts in seinem bisherigen Leben hatte ihn auf eine solche Prüfung vorbereitet. Was er hier ertragen musste, hatte keinen Sinn.
Er erinnerte sich, wie er den vergoldeten Messing-Ohrring vor einem Jahr in Bordeaux, in einer kleinen Seitenstraße, gekauft hatte. Er war gerade zum Matrosen befördert worden und hatte auf einem Dreimaster angeheuert, der Weinfässer nach London beförderte. Auf ihrer dritten Fahrt war das Schiff beim Golf von Biskaya in einen heftigen Sturm geraten. Drei Tage und drei Nächte lang hatte sich die Mannschaft bei eisigen Herbstwinden und schwerem Seegang tapfer geschlagen und mit den wenigen Segeln manövriert, die der Kapitän noch aufgezogen hatte. Und sie hatten zur Jungfrau Maria und allen Heiligen gebetet, dass sie die riesigen Brecher überleben würden, die von allen Seiten auf sie zurollten. Am vierten Tag brach die Sonne durch die Wolken, der Wind ließ nach, und das Meer beruhigte sich ein wenig. Der Kapitän steuerte schließlich den Leuchtturm von Cordouan an. Sie hatten lediglich drei Verletzte. Als sie angelegt hatten, erfuhren sie, dass in dem Sturm fünf Schiffe verloren gegangen waren.
Als das Schiff ausgeladen und wieder instand gesetzt war, gab der Kapitän jedem Besatzungsmitglied ein Geldstück. Narcisse zögerte nicht lange. Zusammen mit einem Kameraden, der, im Stil erfahrener Seeleute, ebenso wie er unbedingt einen Ring am Ohr tragen wollte, durchstreiften sie das Hafenviertel und blieben bei jedem Laden unschlüssig stehen. Das Lächeln einer Verkäuferin gab schließlich den Ausschlag: Sie ließen sich nacheinander das linke Ohrläppchen durchstechen und traten mit einem vergoldeten Ohrring aus dem Laden. Mit dem Ohrschmuck, dem entschlossenen Gang, seinem großen Mundwerk und dem dünnen Schnurrbart, der ihn fortan älter wirken ließ, machte er, wie er fand, durchaus Eindruck. Und es blieb ihnen auch noch genug Geld für die Taverne und einen anschließenden Gang ins Hafen-Bordell.
Er spürte, dass er nicht allein war. Die Alte saß wartend neben ihm.
«Jetzt bist
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