Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman
auch du noch gekommen, um mich zu quälen …»
Sie zeigte ihm einen grünlichen Brei auf ihrer Handfläche und tat mehrmals, als ob sie sein Ohr damit einriebe. Er begriff schließlich und war einverstanden, dass sie die Paste auf der Wunde verteilte. Die Kühle tat gut, und der Schmerz schien ein wenig nachzulassen.
«Erst lasst ihr mich fast verhungern und verdursten, und dann bringst du mir plötzlich Essen und Trinken. Ich lege einen Pfeil auf dem Strand aus, und ihr macht ihn kaputt. Ihr reißt mir das Ohr ab, und danach verarztest du es. Seid ihr hier denn alle verrückt?»
Sie zeigte ihm eine kleine behaarte Gurke und forderte ihn auf, sie zu essen. Der neutrale wässrige Geschmack war recht angenehm. Als er seine Hand zum Mund führte, bemerkte er am Handgelenk das angetrocknete Blut. Sein Hals musste ähnlich verklebt sein.
Heute wollten sie ihn nicht mehr töten, sonst hätten sie wohl kaum die Alte als Pflegerin geschickt. Er konnte sich also in aller Ruhe am Tümpel waschen. Er erhob sich, die linke Hand unverändert am Ohr, und wurde sich seiner Nacktheit bewusst. Trotz der Verletzung dachte er daran.
Unwillkürlich legte er die freie Hand vor sein Geschlecht. Er ertrug diese Blöße nicht. Als er vor zwei Jahren erstmals den Äquator überquerte, hatte er sich tapfer allen Mutproben der Neptunstaufe unterzogen – außer jener, bei der sich die alten Hasen als Teufel verkleideten und die Neulinge sich ausziehen und nackt vom Bug bis zum Heck laufen mussten, während die anderen sie von allen Seiten mit kaltem Wasser und Spott überschütteten. Dieser dumme Scherz, der nicht einmal zehn Sekunden gedauert hatte, war der einzige anstrengende Moment gewesen an diesem ausgelassenen Tag. Und jetzt sollte er nackt inmitten von Wilden herumspazieren. Keiner der anderen Männer lief wie er herum, mit dem Arm nach vorn und die Hand gegen den Unterleib gedrückt. Das mangelndeSchamgefühl war Ausdruck ihrer Unzivilisiertheit, er wollte nicht sein wie sie.
Er lief über den Lagerplatz. Niemand sah ihn an, niemand machte sich lustig, niemand interessierte sich für ihn. Er war so nackt wie sie, und er war es ihretwegen, was hätten sie ihm also vorwerfen sollen? Als er an der Wasserstelle angekommen war, kniete er nieder. Das kühle Nass beruhigte ihn, und er schöpfte immer wieder welches über Nacken, Hals und Arme. Wie ihm die Sonne dabei auf den nackten Körper schien, war für ihn eine neue und erstaunliche Erfahrung und nicht unbedingt unangenehm. Das verstümmelte Ohr schmerzte nach wie vor.
Einer der Männer kam auf ihn zu, es war jener, der vor dem Angriff die kurze Ansprache gehalten hatte. Narcisse stand auf und fragte sich, welche Prüfung ihn nun erwartete. Der Mann blieb zwei Schritte vor ihm stehen, hielt Narcisse die flache Hand hin und sagte:
«Amglo.»
Er hatte sehr langsam gesprochen und dabei jede Silbe betont. Er wiederholte: «Amglo», und zeigte in den Himmel. Was wollte er von ihm? Was wollte er ihm sagen? Der Mann lächelte nicht und hatte in einem gesetzten Tonfall gesprochen. Angesichts seiner Ruhe brach Narcisse in Wut aus:
«Amglo? Du hast mir das halbe Ohr abgerissen, du Schurke! Gib mir meine Hosen und mein Messer zurück! Und gib mir was zu essen!»
Seine Forderungen ließen ihn unbeeindruckt. Es waren die Forderungen eines nackten jungen Mannes, der sich eine Hand ans blutige Ohr und die andere vors Geschlecht hielt. Allerdings war die Wut in seiner Stimme unverkennbar. Narcisse war mit seinen Nerven am Ende und kurz davor, in Tränen auszubrechen, er hatte nicht überlegt, ob sein Verhalten weise war. Er sah den Mann trotzig an, das Leid, das er bislang erlitten hatte, sollte diesen Wilden teuer zu stehenkommen. Der wich einen Schritt zurück und wartete, bis Narcisse sich abgeregt hatte. Dann richtete er die offene Handfläche gen Himmel und wiederholte, als ob nichts geschehen wäre:
«Amglo.»
Dritter Brief
Sydney, 8. April 1861
Monsieur le Président,
nach der Lektüre meines Briefes vom 17. März müssen Sie bei sich gedacht haben, dass ich beim Inhalt die Chronologie oder Logik oder beides durcheinandergebracht habe. Es stimmt, ich schreibe jeden Tag drauflos und folge keinem festen Plan. Das rührt auch daher, dass die Entwicklung von Narcisse mich täglich aufs Neue überrascht. Meine Gefühle für ihn sind denen eines Vaters – leider hatte ich persönlich noch nicht das Glück einer solchen Erfahrung – wahrscheinlich nicht unähnlich, auch wenn
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