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Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman

Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman

Titel: Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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ein offizielles Schreiben verlesen hatte, forderte mich der Richter auf, meinen vollen Namen anzugeben und zu bestätigen, dass ich die Vormundschaft für Narcisse übernehmen würde. Er wartete meine Antworten nicht ab, sondern setzte seine Unterschrift unter ein bereits ausgefertigtes Dokument, reichte mir eine Abschrift und verschwand.
    Auf der Rückfahrt in der Schaluppe überflog ich die zehn Seiten, welche vermutlich von einem Sträfling verfasst worden waren, der in der Schreibstube arbeitete; ich verstand mehr oder weniger, dass ich nunmehr die Vormundschaft für den «Unbekannten, auch weißer Wilder genannt» übernommen hatte, «welcher am 25. Februar 1861 in Sydney von Bord der John Bell gegangen war». Der Gouverneur hatte sein Versprechen gehalten.
    Bill erwartete mich am Landesteg, um mir mitzuteilen, dass Narcisse verschwunden war. Am Nachmittag meiner Abreise war er noch da gewesen, sie hatten auch noch miteinander zu Abend gegessen, oder besser, nebeneinander. Doch seit dem Morgen hatte Bill ihn nicht mehr gesehen. Stunde um Stunde waren vergangen, und Bill war immer besorgter geworden – ich glaubte ihm nur die Hälfte. Er fürchtete Tadel und betonte, dass ich ihm niemals befohlen hatte, Narcisse zu bewachen. Ich beruhigte ihn in diesem Punkt. Den Wachen vor demEingang des Anwesens hatte er nichts gesagt. Ich sprach ihm dafür meine Anerkennung aus.
    Narcisse war seit mehreren Stunden verschwunden, vermutlich seit Tagesanbruch, vielleicht aber auch schon seit dem Vorabend. Warum war er fortgegangen? Wohin? Es gab keine Antworten auf diese Fragen.
    Was sollte ich tun? Sollte ich Alarm schlagen und die Soldaten, die am Ende des Wegs ihr Lager aufgeschlagen hatten, in alle Richtungen aussenden? Ich wusste nicht, ob sie mir gehorchen würden, und ich bezweifelte, dass es ihnen gelingen würde, einen Mann einzufangen, der mit dem Busch vertraut war und einen soliden Vorsprung hatte. Vielleicht würde man ihn nach einer systematischen, mehrtägigen und umfangreichen Suche finden – doch falls Narcisse sich wirklich versteckt halten wollte, konnten die Soldaten, ohne ihn zu bemerken, ebenso gut an ihm vorüberlaufen. Um entlaufene Sträflinge einzufangen, benutzt man hier scharfe Hunde, die darauf abgerichtet sind, die Flüchtigen aufzustöbern und ihnen an die Gurgel zu gehen. Wollte ich Narcisse tatsächlich um diesen Preis wiedersehen?
    Er ist in den Busch zurückgekehrt. Seine Flucht geht mir seltsamerweise nahe, und ich begreife, dass ich den Jungen lieb gewonnen hatte, doch mit welchem Recht darf ich seine Entscheidung missachten? Bill, der überall seine Nase hineinsteckt, weist mich darauf hin, dass Narcisse seine Kleider nicht mitgenommen hat. Ein Aufbruch in unbekanntes Land, nackt und ohne Ziel – zeigte sich darin nicht eindeutig, dass er in die Vergangenheit zurückkehren möchte und unsere Lebensart ablehnt?
    Für seine Familie ist er seit Langem tot. Mit seinem bloßen Vornamen kann ich sie unmöglich ausfindig machen, sie wird nie erfahren, dass er lebt und nicht zu ihr zurückkehren will. Wozu also der ganze Aufwand, ihn zu suchen?
    Narcisse ist frei, und er macht von seiner Freiheit Gebrauch. Er hatsich abgesetzt, als ich in der Stadt weilte. War meine Abwesenheit der Grund für sein Verschwinden? Ging er davon aus, dass ich nicht mehr zurückkehren würde? Empfindet er für mich eine gewisse Zuneigung oder gar Freundschaft?
    Verpflichtungen habe ich nur dem Gouverneur gegenüber, der ihn mir anvertraut hat. Er würde bestimmt keinen Finger rühren, wenn er von Narcisse’ Tod erführe. Narcisse ist für ihn nichts weiter als ein Anlass zu Ärgernissen und Ungewissheit. Ich schulde ihm die Benachrichtigung, aber es besteht kein Grund zur Eile, und so kann ich Narcisse Zeit lassen zu verschwinden, wenn er das möchte.
    Es scheint mir vernünftig, bis morgen früh zu warten. Bis die Schaluppe hier eingetroffen ist und mich zum Büro des Gouverneurs gebracht hat, werden ungefähr zwei Tage ins Land streichen, erst danach wird die Hetzjagd – so man sie veranstaltet – beginnen. Dank dieses Aufschubs ist ihr Scheitern garantiert. Das soll mein Abschiedsgeschenk an Narcisse sein.
    Den ganzen Tag über wälzte ich Gedanken. Ich speiste spät und ohne Appetit; Bill bediente mich und hatte natürlich längst begriffen, dass nun seine unverzügliche Rückkehr ins Arbeitslager bevorsteht. Doch mir liegt nur das Schicksal von Narcisse am Herzen. Wird er im Busch auf andere Wilde treffen,

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