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Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman

Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman

Titel: Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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Fleischfetzen hingen. Unter einem Baum in der Nähe lag eine schwangere junge Frau und war damit beschäftigt, eine Liane zu flechten, um daraus eine flache Kordel zu machen. Sie beachtete ihn nicht und summte leise vor sich hin.
    Als er sein karges Mahl beendet hatte, sah er sich um. Es hatte sich eine Gruppe von etwa zehn Frauen und Kindern versammelt, sie waren dabei, in den Busch aufzubrechen, und zwar in die Richtung, inder die Alte mit seinen Kleidungsstücken und dem Messer verschwunden war. In der Hoffnung, seinen Besitz wiederzufinden – und aus Mangel an Alternativen –, beschloss er, ihnen in einiger Entfernung zu folgen. Niemand sagte ein Wort. Die Gruppe passte ihren Schritt dem Tempo der Kleinsten an. Dieser schweigsame Marsch ließ ihm Zeit für Überlegungen – obgleich er sich im Klaren darüber war, dass ihm diese nicht weiterhalfen: Vielleicht befanden sie sich auf dem Weg zu einem Dorf, das diesen Namen verdiente, mit Lehmhäusern oder Hütten, mit einer größeren Anzahl freundlicher Bewohner und einem Oberhaupt, das man als solches erkennen und das sich seiner annehmen würde? Vielleicht gab es dort sogar einen Wilden, der einige Brocken Englisch sprach oder der in der Lage war, ihn bis an die Grenze zur Welt der Weißen zu führen: irgendeine abgelegene Farm, ein Bootsanleger, eine Missionarsstation.
    Das Dorf kam nicht in Sicht, auch seine Kleider nicht.
    Nach einer Stunde hielten die Frauen vor einem toten Baum, der schon sehr lange dort lag und halb verfault war. Mit kleinen Steinen, die sie an Ort und Stelle fanden, entfernten sie die Rinde, ritzten im Holz und legten verästelte schmale Tunnel frei. In jedem von diesen wand sich ein gelblicher Wurm. Mit äußerster Sorgfalt fuhren sie mit einem Zweiglein hinein, um die Insekten herauszuholen. Die Kinder warteten geduldig, bis man sie ihnen auf dem provisorischen Löffel darreichte, und verschlangen mit sichtlichem Vergnügen eines nach dem anderen.
    Niemand bot Narcisse etwas an, und er hielt sich schamhaft von der Gruppe entfernt, so kam er gar nicht erst in die Verlegenheit, das Dargereichte abzulehnen. Ohne Plan, ohne Zuversicht und mit schmerzendem Ohr legte er sich ins spärliche Gras und verfolgte, wie sie es sich schmecken ließen. Dieser leicht feuchte Teil des Buschs erschien ihm weniger unwirtlich.
    Warum hatte er sich nur dieses Dorf ausgemalt, und warum litt er so, weil es nicht existierte? Warum erwachte seine Hoffnung schonbeim geringsten Anlass und erlitt dann immer wieder Schiffbruch – sie kam und ging, stieg auf und fiel in sich zusammen, wie die Brandung, wie Wellen, die sich am Fels brachen, sich zurückzogen, sich neu bildeten, anschwollen, sich abermals brachen …
    Er musste eine Bestandsaufnahme machen, nachdenken, entscheiden. Wenn er einfach so fortfuhr, von den Ereignissen und den unverständlichen Launen der Wilden gebeutelt, würde er verrückt werden. Er brauchte einen Plan, um sein Leben zu retten, musste zur Küste zurückkehren, wo man ihn auflesen konnte.
    Zuvor hatte er nie eigenständig Entscheidungen treffen müssen. Daheim, in der Schule, in der Werkstatt des Vaters, an Bord, überall hatte man verlangt, dass er gehorchte, flink und ohne Widerworte. Als Matrose brauchte er geschickte Hände und starke Arme, um die Segel zu manövrieren und das Steuer in der Hand zu halten, einen gelenkigen Körper, um sich in der Takelage zu bewegen, ein gutes Gehör und ein gutes Auge für die Wache. Er war nicht angeheuert worden, um sich Lösungen für Probleme auszudenken, sondern um mit seinen Kameraden das zu tun, was man ihnen befahl, mit den immer gleichen Handgriffen, die sich von einem Schiff zum anderen nie änderten und seit Generationen gleich geblieben waren.
    Nichts aus dieser Zeit hatte ihn auf eine solche Prüfung vorbereitet. Die Erzählungen unter Deck waren lustig oder tragisch gewesen, halfen ihm hier aber nicht weiter. Was hätte er darum gegeben, sein Schicksal in die Hände eines Amtsträgers oder eines erfahrenen Seemanns zu legen … Die vollkommene Einsamkeit, in die ihn sein Schicksal gestürzt hatte, erlegte ihm auch völlige Selbstverantwortung auf. In diesem Spiel, das anscheinend keine Regeln kannte, bestimmten jeden Augenblick allerkleinste Entscheidungen, ob seine Chancen, zu überleben und wohlbehalten zurückzukehren, stiegen oder schwanden.
    Durchhalten. Er musste durchhalten und durfte sich nichts vormachen. Es war nicht sicher, dass die Saint-Paul nach ihremZwischenhalt auf

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