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Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman

Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman

Titel: Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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unten an den Stränden und Einbuchtungen entlangzugehen. Nach und nach wurde es heller, und die Bäume traten aus dem Dunkel hervor.
    Er machte sich auf den Weg, mit schnellen Schritten, in einer Hand den Wassersack, in der anderen die Eidechse. Unten folgten auf die Nordbucht ein Felsgrat, darauf eine kleine überschwemmte Ebene und dann erneut eine Bucht voller Korallenriffe. Diese Route war eine kluge Wahl gewesen, auch wenn es keinen Pfad gab. Das Tageslicht erleichterte das Vorankommen. Der Stamm erwachte jetzt, und seine Abwesenheit fiel sicher auf. Was würden sie tun? Würden sie erraten, dass er an den Ort zurückkehren wollte, an dem er ihre Welt betreten hatte? Kermarec, Landstreicher und Narbe mussten sich beeilen. Würden sie sich die Mühe machen, ihn einzufangen? Würden sie ihn für seinen Fluchtversuch bestrafen? Und wie barbarisch würde ihre Strafe ausfallen?
    Er musste noch schneller zur – wie weit? – entfernten Bucht des Vergessens laufen –, wo Hilfe auf ihn wartete. Die kleine Anhöhe, der er die ganze Zeit gefolgt war, fiel ab zu der bekannten, eintönigen Buschebene, in der man sich leicht verlaufen konnte. Er näherte sich vorsichtig dem Meer, das man durch die Bäume hindurch sehen konnte, und behielt es fortan im Blick. Der Boden war von Korallenbrocken übersät, an denen er mit den Füßen hängen blieb. Hitze und Fliegen setzten ihm zu. Er gönnte sich eine kurze Pause,trank sehr wenig, um Wasser zu sparen, und lief weiter. Wie viele Stunden waren es noch? Und was würde er tun, wenn er an seinem Ziel ankam?
    Nach dem endlosen Wald gelangte er an einen nackten weißen Kalkfelsen, der aussah wie ein gigantischer Schildkrötenpanzer. Vom Gipfel aus entdeckte er vor sich eine Landschaft, die genauso aussah wie jene, die hinter ihm lag: kleine Felsbuchten, niedrige Felsgrate, die immer gleiche Ebene und am Horizont, im Landesinneren, eine bläuliche, nicht sehr hohe Bergkette, die sich parallel zum Meer durch die Landschaft schlängelte und die Küstenebene, in der er sich befand, begrenzte.
    Die Sonne stand noch nicht im Zenit, und Narcisse marschierte eifrig voran – ob er einer Wahnvorstellung folgte oder begründeter Hoffnung, wusste er nicht – und erreichte einen anderen, etwas größeren Hügel, der dicht bewaldet war. Mit gemischten Gefühlen machte er in der Ferne die Bucht des Vergessens aus, die im Norden von einem steilen Kliff begrenzt wurde. Kein Schiff, kein Segel, weder dort in der Bucht noch draußen auf dem Meer.
    Die Saint-Paul oder irgendein anderes Schiff zu seiner Rettung hätten jetzt sichtbar sein müssen. Hatte er die Reisezeit von Java aus falsch eingeschätzt? Oder die Zeit im Hafen, um die Überfahrt vorzubereiten? Oder waren sie gestern Abend gekommen und schon wieder abgesegelt?
    Er lief bis zum Strand und ging ihn nach allen Seiten ab. Keinerlei Hinterlassenschaft, keine Nachricht, keinerlei Spuren.
    Nachdenken. Er musste nachdenken. Im Schatten – seine Schritte hatten ihn zum gleichen Baum geführt wie am allerersten Tag – zwang er sich, die Eidechse zu essen und zu trinken. Sollte er bleiben? Er würde vielleicht drei oder vier Tage durchhalten. Aber wenn kein Schiff kam, würde er an die Nordbucht zurückkehren müssen – würde er dazu überhaupt noch die Kraft haben? –, und vielleicht würde er dort entdecken, dass der Stamm Gott weiß wohin weitergewandert war.
    Also lieber sofort umkehren? Die Entfernung zwischen den beiden Buchten war geringer, als er angenommen hatte. Er würde bei Einbruch der Dämmerung zurück sein, Fisch, Muscheln oder Tauben essen und trinken, nichts als trinken … Er hatte nirgendwo Wasserstellen entdeckt, die Alte zeigte ihm nicht, wo sie die Säcke auffüllte. Was, wenn seine Kameraden morgen ankamen? Er musste ihnen eine Nachricht hinterlassen. Die Wilden waren weit fort, sie würden es nicht bemerken und also auch nicht auf den Gedanken kommen, die Nachricht zu zerstören, wie seinen Pfeil aus Steinen. In der Mitte des Strands lag ein großer Fels. In diese unübersehbare Landmarke würde er über der Gezeitenlinie etwas mit Kieseln einritzen. Seine Initialen, N.P., und das Datum, damit sie wussten, dass er noch lebte. Welcher Tag war heute? Man hatte ihn am 5. November hier zurückgelassen. Er rechnete nach und ritzte darunter: 21. November und einen Pfeil, der nach Norden wies.
    Vielleicht würden sie schon morgen die frischen Schriftzeichen entdecken und sich auf die Suche begeben. Salutschüsse,

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