Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman
und auch nicht Narcisse – Gestalt annehmen.
«Die Abläufe am kaiserlichen Hofe könnten ihn erschrecken und gänzlich verstummen lassen. Wenn man ihn I.M. in einem vertraulichenRahmen mit einem verminderten Protokoll und einer kleinen Anzahl von Teilnehmern vorstellen könnte, dann wird es ihm leichterfallen, auf ihre Fragen zu antworten.»
«Also kommt eher der Rosengarten von Compiègne infrage als die großen Säle der Tuilerien … Und Ihrer Meinung nach ist er in der Lage, seine Geschichte zu erzählen?»
«Monsieur Pelletier wird hocherfreut sein, die Neugier I.M. zu stillen. Er drückt sich sehr einfach aus und sucht manchmal nach Worten. Wahrscheinlich ist ihm die Außerordentlichkeit seines Abenteuers nicht oder noch nicht bewusst, und daher kann er es noch nicht gut wiedergeben, doch beantwortet er alle Fragen.»
«Sind seine Ausführungen … geeignet für die Ohren I.M. und der Hofdamen?»
«Hier erhält kein einfacher Matrose die Ehre eines Empfangs. Er ist zurückgekommen … wie ein Kind, mit einer erstaunlichen Naivität und ohne jede Bosheit oder Ironie.»
Narcisse ist kein Erzähler, und in einem halben Jahr habe ich so gut wie nichts über seinen Aufenthalt in Australien erfahren. Doch sollte ich etwa gestehen, dass sein Schweigen möglicherweise peinlich sein würde?
Ein Sekretär, der an einem Tisch saß, protokollierte unsere Unterredung. Nach einigen weiteren Fragen entschied der kaiserliche Kammerherr:
«Monsieur Pelletier wird von uns empfangen.»
Eine Woche später trafen wir mit dem Zug in Compiègne ein. Eine Kutsche fuhr uns zum Schloss, doch hielt sie nicht am Haupteingang, sondern bog in eine Parkallee ein und brachte uns zu einem eleganten Holzpavillon. Ein Diener reichte uns Erfrischungen, und während ich in der Milde des Spätsommers meine Orangeade genoss, wiederholte ich für Narcisse ein letztes Mal die Anstandsregeln, die ich ihm während der ganzen Fahrt eingebläut hatte.
Die Wahl seiner Kleidung hatte mir einiges Kopfzerbrechen bereitet. Mode oder Eleganz sind ihm gleichgültig, doch hat er Kleidung nicht gerne, die seine Kehle, seine Handgelenke oder die Taille einengt. Er würde leiden, wäre er wie ich mit Jacke, Weste und Krawatte bekleidet. Nachdem ich in Erfahrung gebracht hatte, was man des Nachmittags in Compiègne tragen konnte, ließ ich ihm eine weiße Stoffhose kaufen, ein naturfarbenes Hemd mit einem Schal, eine formlose graue Jacke und einen schwarzen Hut mit breiter Krempe. Er mochte als adeliger Liebhaber der Seefahrt durchgehen, als Pferdehändler, der gerade vom Markt zurückkehrte, oder als eine Standesperson aus dem Balkangebirge.
Ein Husarenoffizier, ein Riese mit breiten Schultern, kam uns abholen und führte uns durch die Alleen. Narcisse spazierte raschen Schrittes und mit jenem Lächeln, das er immer aufsetzt, wenn er draußen in der Natur ist. Während der Husar und ich dem toten Laub, das wir unter unseren Schritten zermalmten, keine Beachtung schenkten, gelang es ihm mühelos und ohne einen Blick nach unten, die toten Blätter nicht aufzuwühlen.
Wir gingen um ein Wäldchen herum und waren angekommen. Zwei weitere Husaren von der gleichen Statur hatten sich hinter einer Bank aufgestellt – der kaiserliche Kammerherr wollte wohl kein Risiko eingehen. I.M. saß dort lächelnd, in einem grünen Seidenkleid, einem weißen leichten Schal und einer elfenbeinfarbenen Toque. Drei Schritte vor ihr neigte ich mich zu einer respektvollen Verbeugung. Narcisse tat es mir gleich, doch wandte er sich mit seiner Respektbezeugung an die Dame, die zur Rechten von I.M. Platz genommen hatte. Deren blaues, mit Goldfäden besticktes Kleid und der breitkrempige, mit einer Fasanenfeder geschmückte Damenhut waren ihm offensichtlich würdevoller erschienen.
«Wenn Sie in meiner Nähe weilen, Pauline, gibt es keine Kaiserin mehr», neckte I.M. sie. Die Prinzessin von Metternich – der Vorname bestätigte mich in meiner Annahme, um wen es sich bei ihrhandelte – brach über das Missverständnis in Lachen aus und versetzte Narcisse in Ratlosigkeit. Ich begrüßte die Prinzessin und einen beleibten älteren Herrn, der in einem Sessel saß und in dem ich Monsieur Mérimée erkannte. Der Kronprinz spielte unter der Obhut von Madame Bruat, seiner Gouvernante, mit einem Reifen. Zwei Hofdamen waren mit Stickereien beschäftigt.
«Ich danke Ihnen, Vicomte, dass Sie Monsieur Pelletier zu uns zurückgebracht haben», sagte I.M. «Dass Sie ihn aus Australien nach
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