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Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman

Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman

Titel: Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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diese etwas traurige Episode zu überspielen, fragte I.M.:
    «Und wissen Sie, wer ich bin, mein Freund?»
    «Sie sind die Frau vom großen Chef.»
    «Das ist nicht schlecht beobachtet», seufzte I.M., die sich jetzt ihrer Freundin zuwandte und dieser, während sie geistesabwesend ein gesticktes Kissen streichelte, in verträumtem Tonfall anvertraute: «Diese Augen … seit ich Kaiserin bin, hat mich kein Mann mehr so geradeheraus und intensiv angesehen. Ich habe seinem Blick nicht standhalten können.»
    Es entstand eine peinliche Pause. Narcisse und ich warteten auf eine Aufforderung, wieder an dem Gespräch teilzunehmen. Was sollte man auf eine derartige Vertraulichkeit erwidern? Um den Bann zu brechen, klatschte Prinzessin von Metternich wie ein Kind in die Hände und rief aus:
    «Lasst uns Musik machen. Das ist eine universale Sprache. Lasst uns etwas spielen, Mesdames.»
    Zwei Hofdamen nahmen den Brokat von einem Möbelstück, dasauf einem Podium stand und sich als Klavier entpuppte. Die Jüngere brachte einen Hocker herbei, setzte sich darauf und spielte gefühlvoll zwei Préludes von Chopin, vielleicht ein wenig zu gefühlvoll.
    Narcisse hatte unserer Musik bereits gelauscht, und zwar einem Trio in einem Café in Calais, einem Harmonium in der Kirche von Saint-Gilles, und einer Militärkapelle in einem Pavillon in Paris. Ich wusste, dass sie ihm unverständlich blieb und dass er weder Interesse daran verspürte noch Gefallen. Er hörte höflich zu. Er ahnte, dass I.M. noch nicht fertig mit ihm war.
    «Sagen Sie, mein Freund, haben Sie in Australien gesungen?»
    «Ja, I.M.»
    «Singen Sie uns doch eine Melodie von dort unten vor. Das ist eine Abwechslung zu dem modischen Geleier.»
    Diese unerwartete Aufforderung ließ mich aufhorchen. Natürlich hatte ich ihn mehrmals selbst darum gebeten, aber immer ohne Erfolg. Wir waren nicht darauf vorbereitet, und ich wusste nicht, wie er reagieren würde. Er senkte den Kopf, sammelte seine Erinnerungen und hub an.
    Die Laute aus seinem Mund – wie soll man sie beschreiben? Als Miauen, abgehacktes Wiederholen von Silben, Zungenschlagen und Zähneklappern, synkopisches Grunzen, Pfeifen …. – erinnerten an nichts, was man am Konservatorium lehrt oder was mir jemals zu Ohren gekommen wäre, selbst im Pazifik. Weder Notenlinien noch Wechsel von Dur zu Moll hätten diesen Singsang dokumentieren können. Ein merkwürdiger und ausgeprägter Rhythmus kündete davon, dass es sich um Gesang handelte. Sogar seine Stimme hatte sich verändert, sie war guttural und dumpf geworden. Etwas von Australiens Roheit, der Einsamkeit seiner Wüsten, dem Brennen der Sonne auf die ausgedorrte Erde erklang im Park von Compiègne, und ich hätte mich nicht gewundert, wenn sich ganz feiner roter Staub auf den kaiserlichen Schultern abgelegt hätte …
    Narcisse hörte unvermittelt auf, ohne die Stimme zu verändernund ohne Rallentando. I.M. erschauerte, und in leichtem Tonfall, allerdings ohne zu lächeln, meinte sie:
    «Schau an, Pauline, das hier ist vermutlich sensationeller als dieser Monsieur Wagner, von dessen Neuheiten Sie mir so begeistert erzählen …»
    Prinzessin Pauline brachte die Unterhaltung, die dabei war, ins Stocken zu geraten, wieder in Schwung, indem sie sich an Narcisse wandte:
    «Und was machen Sie morgen, mein Freund?»
    Diese harmlose Frage löste tiefe Verwunderung bei ihm aus. An der Art und Weise, wie er seine Finger bewegte, erkannte ich, dass er nicht weiterwusste. Er machte eine Verbeugung in Richtung der Prinzessin, holte tief Luft und sprang ins kalte Wasser:
    «Morgen wird die Sonne wieder aufgehen.»
    Für I.M. und die Prinzessin war es unmöglich, darin meine Grammatiklektionen und meine Versuche, ihm die Bedeutung von Zukunft beizubringen, zu würdigen. Sie waren außer sich vor Begeisterung über die «fernöstliche Weisheit» dieser Antwort.
    «Voilà!», meinte I. M. «Das werde ich von jetzt an allen Dränglern antworten, die mich unaufhörlich belästigen, um meine Pläne oder die des Kaisers zu erfahren …»
    Ich wagte nicht, das dieser Antwort innewohnende Missverständnis aufzuklären – und mir scheint, während ich diese Zeilen an Sie niederschreibe, dass die ganze Audienz ein einziges Missverständnis war.
    «Haben Sie keinen Beruf oder eine feste Bleibe?»
    Er senkte den Blick.
    «Und falls sich der Vicomte nicht Ihrer angenommen hätte, wären Sie dann verhungert?»
    Narcisse wusste darauf keine Antwort. Hypothetische Überlegungen sind für

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