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Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman

Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman

Titel: Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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kaiserliche Fächer neigte sich leicht, das bedeutete Zustimmung. Und ich bat Narcisse, seine Jacke auszuziehen und den rechten Ärmel seines Hemdes bis zur Schulter hochzukrempeln.
    Die Tätowierung beginnt am Bizeps, windet sich zweimal um den Unterarm und endet auf dem Handrücken. Sie durchschneidet ein langes schachbrettartiges Muster, das bereits vorher eingeritzt worden sein dürfte und von dieser schrecklichen Spur gleichsam verwüstet wird. Auf den freien Hautflächen wechseln ohne erkennbare Ordnung durchbrochene Linien, Kreise und verwirbelte Kreislinien. Die Motive sind mit schwarzer Farbe in die Haut eingelassen worden und am inneren Unterarm rot eingefärbt; sie sind scharf umrissen, und man ahnt, wie viel Zeit es gekostet haben muss, sie zu tätowieren.
    I.M. und die Entourage, sogar die Husarenoffiziere, blieben vor diesem überraschenden Anblick sprachlos. Narcisse drehte ohne Eitelkeit langsam seinen Arm hin und her, öffnete und schloss die Faust, um das einmalige Muster auf seiner Haut noch besser sichtbar zu machen.
    «Ich möchte auch ein Muster auf meinem Arm haben, Mutter!»
    Prinzessin Pauline erläuterte dem Kronprinzen, dass es dazu unzähliger Stiche mit einer sehr langen und dicken Nadel bedurfte, und der Kronprinz erschien daraufhin weniger entschlossen.
    Ich bedeutete Narcisse, seinen Ärmel wieder herunterzuziehen und in seine Jacke zu schlüpfen, um zu verhindern, dass man auch noch seinen anderen Arm sehen wollte – oder die Beine mit der Verletzung am Oberschenkel oder seinen Rücken. Die Hautverletzungen waren indes nur die Spitze des Eisbergs, Narcisse hatte viel mehr ertragen müssen, und ich hoffte, dass neuerliche Fragen es ihm erlauben würden, andere Seiten seines Schicksals zu enthüllen.
    «Und während Sie dort unten lebten, hat Ihre Familie …?»
    Narcisse wandte sich mir zu, und ich antwortete I.M. an seiner Stelle.
    «Seine Eltern, sein Bruder und seine Schwester glaubten, dass ertot wäre. Sie hatten vom Reeder die offizielle Nachricht von seinem Ableben erhalten.»
    «Achtzehn Jahre lang …», überlegte I.M. und wandte sich dann an ihren persönlichen Adjutanten:
    «Capitaine, sorgen Sie dafür, dass der Marineminister untersuchen lässt, warum dieser Unglückliche einfach zurückgelassen wurde und wie es möglich war, dass man seinen Eltern die falsche Nachricht von seinem Tod überbrachte.»
    Dann, an Narcisse gewandt:
    «Haben Sie Ihre Eltern wiedergesehen?»
    «Ja, I. M., der Vicomte hat mich nach Saint-Gilles-sur-Vie begleitet.»
    «Das Wiedersehen muss Sie sehr berührt haben …»
    Ich verneigte mich, denn ich wollte I.M. nicht mit unserer Reise in die Vendée langweilen.
    «Und wie lebten Sie, als Sie in Australien waren?»
    «Am Anfang wie ein Kind. Ich konnte nichts tun, weder reden noch jagen noch essen. Eine Alte hat sich um mich gekümmert. Ich bin so lange bei ihr geblieben, bis ich groß war.»
    «Doch wie alt waren Sie, als Sie sich dort unten allein wiederfanden?», fragte die Prinzessin.
    Als ich sah, dass er bei dieser schwierigen Frage stumm blieb, sprang ich ein:
    «Achtzehn Jahre und sechs Monate. Ich denke, für die Wilden war er am Anfang wie ein Kind, weil er nichts über ihre Lebensweise wusste.»
    «Das ist ja sehr merkwürdig», erregte sich I.M. «Und diese Alte, mein Freund?»
    «Sie ist gestorben.»
    «Oh, das tut mir leid. Da müssen Sie sich ein zweites Mal sehr einsam gefühlt haben … Und danach?»
    Ihre Frage bezog sich auf Beziehungen, die Narcisse nach diesem Ereignis knüpfte, doch er verstand sie anders.
    «Danach haben wir sie unter einem Baum gelassen. Noch am selben Abend sind wir zu einem anderen Ort im Busch aufgebrochen.»
    «Wie das?»
    «Wenn der Tod kommt, dann lässt man ihn dort, wo er ist. Man darf den Toten nicht berühren und auch nicht seine Speere, seine Körbe, seine Nahrung. Man muss sich entfernen, sonst … geschieht etwas Schlechtes. Man darf nicht an diesen Ort zurückkehren.»
    Wie viele wertvolle Informationen steckten in diesen wenigen Sätzen! I. M., welcher er gefallen wollte, erhielt, ohne dass sie es wusste, mehr Details als ich durch meine beständigen und vergeblichen Befragungen. Ich empfand zugegebenermaßen Verdruss. Beim Niederschreiben dieser Schilderungen an Sie begreife ich vor allem, dass es falsch gewesen war, auf meinen Fragen sowie auf einem bestimmten Vorgehen und bestimmten Grundsätzen während des Fragens selbst zu beharren. Narcisse erzählt, wo und wann es ihm beliebt.
    Um

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