Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman
zu verlieren, wäre die Wahrscheinlichkeit, dass eine Gruppe auf den richtigen Weg gelangte, weit genug in dieses unbekannte Land vordrang und endlich per Zufall zu dem Stamm käme, sehr gering. Es würde bedeuten, große Risiken einzugehen, und das für eine Wohltat, die so sehr vom Zufall abhing. Falls er ihn nicht am Strand antraf, würde der Kapitän das Signal zum Auslaufen geben. Es war also besser, wennsich im Augenblick niemand auf die Suche nach ihm machte. Nachdem er von ganzem Herzen das Eintreffen eines Schiffes erhofft hatte, hoffte er jetzt auf eine weitere Verzögerung … Jedenfalls war es für ihn keine Frage mehr, ob er sich von den Wilden entfernen sollte: Er wusste, dass er das nicht überleben würde.
Die Landschaft, die sie durchwanderten, wechselte fast den ganzen Tag über nicht, immer der gleiche Busch, die gleiche vollkommen platte, horizontlose Ebene. Mitunter wurde der Boden staubig und sandig, und es gab weniger Bäume. Steigende Hitze und vollkommene Windstille begünstigten Angriffe von winzigen Fliegen, Mücken und Moskitos, welche sich von der weißen Haut besonders angezogen fühlten. Er hatte keine Möglichkeit, seinen vollständig nackten Körper zu schützen, und mit den Armen um sich zu schlagen und die Tiere zu erledigen, erwies sich, leider, als nutzlos. Die Alte, welche die Insekten mieden, sah keinen Grund, ihm eine Medizin zu bereiten. Lediglich eine Mischung aus Schweiß und Staub verhalf ihm an einigen Stellen zu einer schützenden Kruste. Als er das bemerkte, nahm er mehrere Handvoll Sand und streute ihn über seinen Körper, um sich vor Stichen zu schützen. Doch war er noch nicht ausreichend verdreckt, um völlig gegen sie gefeit zu sein.
Sie rasteten erst nach Einbruch der Dunkelheit und hatten bis dahin keine einzige Pause gemacht. Landstreicher erwartete sie an der Lagerstelle, er hatte ein Feuer entzündet. Die Alte entfernte sich nicht, um die Wassersäcke zu füllen. Die Jäger brachten nur magere Beute, und wie an den ersten Tagen – oder weil sie nicht mehr am Meeresufer waren? – hatte Narcisse nicht mehr das Recht, sich der Feuerstelle zu nähern und sich selbst zu bedienen. Er musste warten, bis die Alte ihm seine kleine Portion brachte. Als sie ein zweites Mal zurückkam, stellte Landstreicher sich ihr in den Weg, nahm sich das kleine Stück, das sie für ihn bestimmt hatte, und schlang es herunter, wobei er Narcisse direkt in die Augen sah.
Ihm waren dieser abschätzige Blick und das vorgereckte Kinn gut bekannt von Leuten, die Streit suchten, doch dieser Wilde machte ihm keine Angst. Er hatte eine ordentliche Abreibung verdient, eine Abreibung, die beweisen würde, dass er der Stärkere war und dass man einen Matrosen der Saint-Paul nicht ungestraft demütigte. Es hätte ihm richtiges Vergnügen bereitet, diesem arroganten Zwerg eins draufzugeben, und Narcisse hatte an Häfen Schläge und Täuschungsmanöver gelernt, die er jetzt gerne angewendet hätte. Doch mit den Muskeln zu spielen, war nicht ratsam. Er hatte keine Ahnung, wie der Stamm reagieren würde. Falls sie die Lektion, die er Landstreicher verpassen würde, nicht guthießen und sich alle Männer zu dessen Verteidigung auf ihn stürzten, würde er unterliegen. Das letzte Mal, als sie ihn auf ähnliche Art und Weise angegriffen hatten, konnte er sich gegen ihre Überzahl nicht behaupten und hatte die Hälfte seines Ohrläppchens eingebüßt. Weil er keine Lust darauf hatte, diese Erfahrung zu wiederholen, biss er die Zähne zusammen und ging seines Wegs. Die Alte brachte ihm nichts mehr.
Nicht Körperkraft, sondern seine Intelligenz musste ihn retten. Was hatte er gelernt? Landstreicher war am Vortag mit dem Greis aufgebrochen, und wie immer er den Tag verbracht haben mochte, am Abend traf er an dem Ort ein, den man als Lagerplatz vereinbart hatte. Jeder der Wilden hatte folglich eine Landkarte im Kopf und vielleicht auch einen Kompass. Auf diese Weise konnten sie Begegnungen vereinbaren und sogar auf verschiedenen Wegen dorthin gelangen. Es galt für ihn, diese Kenntnis der Umgebung zu erlangen, um sich im richtigen Augenblick absetzen zu können. Je mehr er mit ihnen herumwanderte, desto einfacher würde es für ihn sein, sich allein zurechtzufinden.
Er musste genauer verstehen, warum Landstreicher sich ihm gegenüber so verhielt. Alle anderen Wilden brachten ihm nur Gleichgültigkeit entgegen. Wenn er ihre merkwürdigen Regeln nicht einhielt – wiesich nicht selbst Fleisch zu nehmen,
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