Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman
sondern darauf zu warten, bis die Alte ihm etwas brachte, nachdem die Männer sich bedient hatten –, erinnerten sie ihn daran, aber nur so lange, bis er das tat, was sie von ihm erwarteten, und ohne ihm seine Unkenntnis nachzutragen.
Die Feindseligkeit von Landstreicher war konstant, beharrlich und sogar noch offenkundiger als während der ersten Tage. Doch wenn der Stamm tatsächlich beschlossen hatte, ihn aufzunehmen, ihn zu ernähren, zu ertragen und sich mit ihm herumzuschlagen, dann musste den Älteren die Haltung von Landstreicher als sehr ungehörig erscheinen. Narcisse versuchte, sich vorzustellen, wie im Dorf ein Fremder vom Bürgermeister, dem Pfarrer oder einer anderen Respektsperson empfangen wurde: Falls ein junger Mann es sich erlaubte, dem Gast gegenüber respektlos zu sein, hätte er umgehend einen Tadel für seine Unverschämtheit erhalten.
Soweit Narcisse das Alter des Wilden richtig einschätzte, waren sie beide ungefähr gleich alt. Fürchtete Landstreicher Konkurrenz? Bei den Mädchen? Das konnte nicht sein. Narcisse hatte ihnen gegenüber niemals das geringste Interesse gezeigt, und er musste sich dazu nicht einmal verstellen. Also bei der Alten? War Landstreicher eifersüchtig darauf, was sie für ihn getan hatte? Sie hatte ihn gesund gepflegt und ihm zu essen gebracht. Er verstand nicht, warum, aber das spielte keine Rolle. Sie wusste, was sie zu tun hatte. Fühlte er sich auf unerklärliche Weise bedroht?
Was war er für sie? Ein Sohn, ein Enkel, ein Neffe oder ein Patensohn? Und wer war sein Vater? Er musste die Beziehungen zwischen den Stammesangehörigen verstehen und durfte sie nicht mehr als beliebig wahrnehmen. Bis es so weit war, würde er versuchen, sich die Alte als verwitwete Prinzessin vorzustellen und Landstreicher als heißblütigen Prinzen. Bedrohte ihn die Ankunft eines Weißen wirklich dermaßen? In welcher Weise? Die Antworten auf diese Fragen blieben ihm verschlossen. Einstweilen. Sie würden schon kommen.
Lucien hatte ihn im Elternhaus oder in der väterlichen Werkstatt an die Abfuhren und Schläge eines älteren und brutalen Bruders gewöhnt, den er nicht mochte und dem er es heimzahlte. Landstreicher war wie ein schwarzer Doppelgänger von Lucien, und er konnte ihm ebenso wenig aus dem Weg gehen wie damals seinem Bruder.
Landstreicher war nicht sein Freund? Was machte das schon! Er brauchte keine Freunde, er wollte keine Freunde unter den Wilden.
Der Hunger war zurück, aber das Fleischstück, das Landstreicher ihm geraubt hatte, hätte ihn auch nicht gestillt. Er streckte sich im Staub aus und bemühte sich, nicht an die opulenten Mahlzeiten an den Stränden zu denken. Heute Abend war es den Männern gelungen, zwischen den Sträuchern und vereinzelten Bäumen in der Ebene Echsen und kleine kurzfellige Tiere zu fangen. Das musste auch ihm gelingen, um zu essen zu haben, wenn er sich absetzte.
Jeder Jäger, der ihm etwas von seinem Handwerk beibrachte, würde sein Freund sein.
Elfter Brief
Vallombrun, 15. April 1862
Monsieur le Président,
ich habe die letzte Ausgabe der Zeitschrift unserer Société erhalten, in welcher auf zwei Seiten über die Versammlung vom 2. September berichtet wird.
Sie haben mir ziemlich deutlich zu verstehen gegeben, dass ich damals zu lebhaft und ohne den notwendigen inneren Abstand reagierte, und so habe ich eine Woche lang gewartet, bevor ich auchnur eine einzige Zeile verfasste, und weitere drei Tage, bevor ich Ihnen schrieb. Jeden Morgen bin ich in der Umgebung meines Schlosses – die Wiesen sind noch halb von Schnee bedeckt – umhergestreift und habe nachgedacht. Sie sehen, ich befolge Ihre Worte.
(Die Artikel, die in diesem Herbst in der gewöhnlichen Presse erschienen und welche die Relevanz meines Exposés nur sehr ungenügend wiedergeben, sind meiner Meinung nach nicht weiter beachtenswert. Eine witzige Karikatur, welche den Duc de Morny zeigt, wie er dem weißen Wilden die Beteiligung an der Expedition nach Mexiko vorschlägt, hat mich kurz schmunzeln lassen. Wird der Öffentlichkeit jetzt nichts anderes im Sinn bleiben, als dieses Bild eines Wilden in einem absurden Pelzumhang und mit federnem Kopfschmuck?)
Meine Entrüstung ist ungebrochen. Lesen Sie noch einmal meinen Brief vom 3. September, falls Sie die Güte hatten, ihn aufzubewahren. Bemühen Sie Ihr Gedächtnis. Entweder haben wir nicht derselben Versammlung beigewohnt, oder der Schreiberling bei der Zeitschrift macht sich über mich lustig. Er hat nur mit
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