Was mit Rose geschah
sagten immer wieder »Lourdes« und zeigten dabei auf Christo und auf Großonkel in seinem Rollstuhl. Irgendwann beruhigte er sich und ging weg.
Lourdes ist ein merkwürdiger Ort. Die Grotte liegt völlig abseits der eigentlichen Stadt. Wir fuhren eine Weile herum undwussten nicht, wohin, bis ich begriff, dass wir den Schildern mit der Aufschrift »Sanctuaires« folgen mussten, um zur Grotte zu gelangen, in der alles passiert. Es gibt eine Menge Kirchen und eine Menge Leute. Eine Menge Reisebusse und Leute in Uniform. Die meisten Menschen sind alt. Einige sind richtig alt. Ich sehe zu, wie ein Reisebus seine Ladung ausspuckt, was ewig dauert. Wer nicht schon im Rollstuhl sitzt, kann kaum noch laufen und klammert sich verzweifelt am Leben fest, während er die Stufen hinuntersteigt. Dabei haben diese Leute doch schon so lange gelebt. Allein in diesem Bus dürften sie zusammen auf ein paar tausend Jahre kommen. Rein rechnerisch. Christo ist erst sechs und sein ganzes Leben krank gewesen. Ich glaube, dass er ein Wunder mehr verdient als jeder von denen. Ich hoffe, Gott merkt das auch.
Wir parken auf einem Busparkplatz und machen uns auf den Weg zur Grotte, in der der heiligen Bernadette vor vielen Jahren die Jungfrau Maria erschienen ist. Ivo trägt Christo, und ich schiebe Großonkel. Es ist witzig. Jetzt, wo ich hier bin, bin ich ziemlich aufgeregt. Ich habe das Gefühl, dass wirklich etwas passieren könnte, obwohl ich bisher insgeheim meine Zweifel hatte. Ich meine, Bernadette war ein Mädchen mit speziellen Bedürfnissen – mit anderen Worten, sie war zurückgeblieben. Und in meinem Alter. Ich kann mir nicht vorstellen, dass den Mädchen in der Schule irgendjemand erscheint. Die meisten von ihnen sind unglaublich dumm oder nervig oder beides. Zum Beispiel Helen Davies, die angeblich eine fromme Katholikin ist und sicher begeistert wäre, wenn ihr jemand erschiene, weil sie dann noch hochnäsiger sein könnte als ohnehin schon. Aber sie hat totale Vorurteile gegenüber uns. Ich frage mich, was die heilige Bernadette wohl von den Zigeunern gehalten hat. Großonkel sagt immer, dass wir in allen Teilen Europas verfolgt worden sind, meist viel schlimmer als in Großbritannien, also könnten wir uns glücklich schätzen. Während des Holocaust wurden die Zigeuner ebenso vergast wie die Juden. Aber wennman nur zu einem Viertel jüdisch war, galt man nicht als Jude und durfte weiterleben. Wenn man aber auch nur zu einem Sechzehntel Zigeuner war, galt man immer noch als Zigeuner und wurde vergast. So sehr haben sie die Zigeuner gehasst. Und in Rumänien waren die Zigeuner viele Jahrhunderte lang Sklaven, die gekauft und verkauft wurden. Das lernt man nicht in der Schule. Aber Großonkel hat mir davon erzählt. Er weiß eine Menge darüber. Vermutlich hatte auch Bernadette Vorurteile uns gegenüber. Vielleicht hat sie auch nie jemand danach gefragt. Zuerst habe ich überlegt, ob wir nicht die heilige Sara um ein Wunder bitten sollen, sie ist immerhin die Schutzpatronin der Zigeuner. Ihr Schrein ist gar nicht so weit von hier – und wir könnten gleich noch ans Meer fahren. Aber auf mich hört ja keiner.
Neben dem Weg ist eine Absperrung, hinter der ein Fels aufragt. Die Grotte der Bernadette befindet sich über unseren Köpfen. Wegen der Absperrung kann man nicht hinaufklettern. Die Leute schlendern gemächlich vorbei, als wäre es keine große Sache. Ich frage mich, ob sie wirklich daran glauben, dass das alles so heilig ist – die meisten sehen nicht sonderlich beeindruckt aus. Unterhalb der Grotte, auch hinter der Absperrung, steht eine Art riesiger Kerzenleuchter. Er ist hübsch. Hübscher als die Marienstatue in der Grotte, die meiner Meinung nach ziemlich nach Plastik aussieht. Großmutter hat die Augen geschlossen und bewegt lautlos die Lippen. Ich mache auch die Augen zu und versuche zu beten. Als ich sie wieder aufmache, schaut Christo mit absoluter Ruhe zu der Statue hinauf. Ich frage mich, was er wohl denkt. In diesem Moment dreht sich Großonkel unvermittelt mit seinem Rollstuhl und rollt weg, als hätte er es furchtbar eilig. Er sagt kein Wort. Ich will ihm nachgehen, doch Ivo legt mir die Hand auf den Arm.
»Lass ihn.«
Großmutter macht die Augen auf und sieht uns wütend an.
Nachdem wir geschaut und gebetet haben, bringt Ivo Christozum Badehaus. Hier baden die Kranken im heiligen Wasser – dort geschehen die Wunder, wenn sie denn geschehen. Bevor wir hergekommen sind, habe ich mir ein bisschen
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