Was mit Rose geschah
nachdem Großonkel wieder aufgetaucht ist – er hatte eine Bar gefunden und war mit einem französischen Rom ins Gespräch gekommen – und Ivo und Christo aus dem Badehaus zurück sind, gehen wir alle noch einmal zur Grotte. Im Dunkeln ist es viel schöner – die Kerzen in den großen Kerzenleuchtern sind angezündet, und weiches Licht fällt auf die Marienstatue, so dass sie nicht mehr nach Plastik aussieht, sondern fast wie ein richtiger Mensch – oder eine Vision, so wie jene, die Bernadette vor langer Zeit nachts gehabt hat. Um uns herum auf den steilen bewaldeten Hügeln brennen Lichter, und auf dem höchsten, weit über uns, sieht man ein riesiges erleuchtetes Kreuz. Es ist ein wunderschöner milder Abend. Insekten surren in den Bäumen, und am Himmel sind Millionen Sterne – viel mehr und viel hellere, als ich zu Hause je gesehen habe.
Ein Priester hält eine Art Gottesdienst ab. Er hat eine wunderschöne Stimme – er singt die Worte eher, als sie zu sprechen. Großmutter nervt, weil sie ständig fragt, was er sagt, ich weiß es aber auch nicht. Ich verstehe vielleicht jedes zehnte Wort, aber nicht, was er tatsächlich sagt. So kann ich meine Gedanken an fremde Orte wandern lassen. Ich schaue hinauf zu dem erleuchteten Kreuz und den Sternen und der Statue und den Kerzen. All die Leute um uns herum antworten dem Priester mit leisem Gemurmel. Dann erklingt von irgendwoher Musik – sanfte beruhigendeMusik, eine Frauenstimme singt. Ich wünsche mir so sehr, dass es funktioniert, dass ich gar nicht mehr wage, Christo anzuschauen. Ich muss sogar weinen. Großmutter legt mir den Arm um die Schultern. Sie weint auch.
In diesem Moment glaube ich wirklich. Ich glaube alles.
Schließlich müssen wir die Grotte verlassen, um etwas zu essen. Großmutter schiebt Großonkel, und Ivo trägt Christo, der auf seinem Arm eingeschlafen ist. Nach dem ganzen heiligen Zeug muss er richtig müde sein. Ivo gibt mir eine Zigarette. Er wirkt jetzt viel ruhiger.
»War das Bad gut?« Ich kann mir nicht vorstellen, was dort drinnen passiert ist.
»Ja, es war gut.«
»Zum Glück ist so es warm, was? Christo geht es sicher gut.«
»Ja.«
»War es genauso, als du damals hergekommen bist?«
»In etwa schon. Sie haben jetzt mehr Helfer.«
Er starrt in die dunkle Nacht.
»Konntest du damals – ich meine, hast du – gemerkt, dass du geheilt warst?«
»Damals nicht. Es war nur Wasser für mich. Ziemlich kalt.«
»Das dachte ich mir.« Trotzdem bin ich erleichtert. Ich hatte mich schon gefragt, ob er sofort wusste, dass er geheilt ist.
»Balthazar möchte, dass ich noch einmal hingehe und mit dem Priester über das spreche, was mit mir passiert ist.«
»Ehrlich? Vielleicht wäre das gut.«
Ich bin aber ein bisschen skeptisch. Vielleicht haben sie das Gefühl, dass man ihnen gehört, wenn man ein Wunder erlebt hat. Und ich höre aus seiner Stimme heraus, dass er nicht in tausend Millionen Jahren hingehen wird.
»Was habt ihr gemacht, Kleiner?«
»Wir haben Omelette und Pommes gegessen. Das war super. Oh, und …«
Nicht zu fassen, dass ich es vergessen habe.
»Ich habe zwei Kanister heiliges Wasser besorgt!«
Da muss Ivo lächeln. Dann lacht er sogar – ein glückliches Lachen, kein gemeines. Er lacht richtig. Das habe ich schon lange nicht mehr gehört.
10
Ray
»Mrs Hearne? Mein Name ist Ray Lovell. Ich versuche, Kontakt zu Ihrem Bruder und Ihrem Neffen aufzunehmen.«
»Meinem Bruder?«
»Tene Janko. Und Ivo.«
Stille.
»Soll das ein Witz sein?«
»Nein, ganz und gar nicht. Mrs Hearne …«
»Ich heiße Janko. Miss Janko.«
»Verzeihung. Man hat mir gesagt, Sie könnten mir vielleicht etwas über den Aufenthaltsort Ihrer Familie erzählen.«
»Ich muss Sie zurückrufen. Geben Sie mir bitte Ihre Nummer.«
Ich nenne die Büronummer. Luella Janko ist eine misstrauische Frau. Sie ruft zehn Minuten später zurück, nachdem sie uns vermutlich im Telefonbuch nachgeschlagen hat. Andrea stellt sie durch.
»Weshalb wollen Sie mit ihnen sprechen?«
»Es geht um Rose Wood. Rose Janko. Ich versuche, sie zu finden.«
»Sie versuchen, Rose zu finden? Nach so vielen Jahren?«
»Ja.«
Wieder entsteht eine lange Pause. Ich bin nicht überrascht über ihre Zurückhaltung; Roma haben viele Gründe, misstrauisch zu sein, wenn Leute nach ihrer Familie fragen. Schließlich ist sie bereit, mich in einem Café im Stadtzentrum zu treffen. Vermutlich wieder eine Hinhaltetaktik, damit sie sich weiter über mich informieren
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