Was scheren mich die Schafe: Unter Neuseeländern. Eine Verwandlung
nationalen Symbole?« Ich nicke. Er lächelt. »Das muss man ironisch verstehen. Und historisch.«
Humphreys holt aus. Es gab mal eine Zeit, da hat Neuseeland sich nicht nur im Schatten Australiens gefühlt, sondern sich auch dafür geschämt, neuseeländisch zu sein. Das war der Komplex der Kolonie, geschürt von Mutter England. Um nicht als Hinterwäldler zu gelten, mussten Musik, Mode, Essen, Kunst und Bücher von ›overseas‹ kommen. Hauptsache nicht ›Made in NZ ‹. Viel zu peinlich.
»Es ist das nationale Äquivalent zu einem Short-Man-Syndrom.« Humphreys klingt jetzt wie ein Soziologe. »Der übliche Begriff dafür ist ›cultural cringe‹.«
Schämen im Kollektiv? Kommt mir bekannt vor. Doch die Schottenfamilie ist damit nicht zufrieden. Bei ihrem Sohn regt sich Protest.
»Aber was ist mit ›Der Herr der Ringe‹?«, wirft der Jugendliche ein. »Jeder weiß doch, wie cool Neuseeland ist, wegen Peter Jackson und so. Deshalb wollte ich überhaupt mit.«
Der Fachmann für fremde Sitten nickt.
»Das war mit Abstand die erfolgreichste PR -Kampagne, die ein Land je gestartet hat – den Hobbits sei Dank. In den dunklen Zeiten davor hat man uns doch für einen Teil von Australien gehalten.« Er lacht. »Jetzt hält man uns für Mittelerde.«
Mit der Tolkien-Trilogie rückten mehr Besucher denn je zuvor an. Ich erinnere mich – Otto wurde damals gerade geboren. Das ganze Land war im Frodo-Fieber. Jeder Pizzaauslieferer, Pferdezüchter und Luxuswohnmobilverleiher rühmte sich, direkt oder indirekt an den Dreharbeiten mitgewirkt zu haben. Auch der Terroranschlag vom 11. September half langfristig dem Neuseelandtourismus. All das Altmodische und Abgeschiedene von Aotearoa war plötzlich erstrebenswert. Heile Welt statt kaputte Urbanität, dazu Gletscher, Geysire, Delfine. Und nicht mal gefährliche Tiere.
Zum Abschluss zieht Gordon Humphreys für jeden von uns eine Kopie des Time-Magazins aus seiner Tasche. ›Cool Kiwis‹ lautet die Schlagzeile aus dem Jahr 2003.
»Schaut euch das an: Unser Image-Aufschwung war denen eine Titelgeschichte wert. Wahrscheinlich dauert es Jahrzehnte, bis wir es je wieder auf so ein Cover schaffen.«
Eva steckt das Heft in eine DIN -A4-Mappe, die mit Nikaupalmen verziert ist. Die Schotten verwickeln Humphreys in eine letzte Diskussion über den Immobilienmarkt.
»Eigentlich sind wir doch Glückspilze«, sage ich zu Eva, als wir über den Schulhof laufen. Der Crashkurs hat Spaß gemacht und einiges ins Lot gerückt. Christchurch fühlt sich gerade wieder gut an.
Eva wickelt sich ein buntes Tuch um den Hals und schaut mich an.
»Ja, aber das ist so, als ob man sich verliebt: die Euphorie am Anfang, die Begeisterung, sich entdecken.« Sie bleibt am Fahrradständer stehen. »Aber wenn sich die ersten Schwächen zeigen, dann kommt doch die Frage: War’s das jetzt – oder wird es noch die große Liebe?«
Claude hat mir die Adresse von ihrem Studio gesimst. Auf dem Rückweg vom Kurs fahre ich an manikürten Gärten entlang. Im Stadtzentrum entlädt die historische Straßenbahn vor der Kathedrale gerade eine Ladung Touristen. Vor allem Japaner sind von der ›britischsten Stadt außerhalb Europas‹ angetan und lassen sich von schmucken Stechkahnfahrern in Weste und Strohhut über den Avon gondolieren. Der Rest des Landes wird nicht so gerne daran erinnert, wie England vor fünfzig Jahren aussah. Von den Nordlichtern Neuseelands wird Christchurch so ähnlich eingestuft wie Bayern in Hamburg: als hübsch, aber hinterwäldlerisch und erzkonservativ. Im intellektuellen Wellington und der Kommerzhochburg Auckland gilt Christchurch als überdurchschnittlich weiß (stimmt) und langweilig (stimmt nur, wenn man die Kunstszene, das Art Festival, die vielen Restaurants, das Busker Festival, die Großkonzerte, das Literaturfestival, die Outdoor-Raves und internationale Sportveranstaltungen wie das jährliche ›Coast to Coast‹-Rennen komplett ignoriert).
Die Stahltür im ersten Stock eines alten Lagerhauses ist angelehnt. Claude sitzt im Schneidersitz auf dem Boden und hackt in die Tastatur ihres Laptops. Neben ihr hockt ein ausgestopfter Vogel, dem ein Flügel fehlt. In der Ecke steht eine Kamera auf einem Stativ, dahinter das übliche Fotografenzubehör wie Leuchten und Reflektoren.
»Sorry, ich chatte gerade«, sagt sie und starrt auf den Bildschirm. Sie pfeift und wiegt den Kopf. So kenne ich die Espressonistin noch gar nicht. Ich schiele über ihre Schulter aufs Laptop
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