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Was scheren mich die Schafe: Unter Neuseeländern. Eine Verwandlung

Was scheren mich die Schafe: Unter Neuseeländern. Eine Verwandlung

Titel: Was scheren mich die Schafe: Unter Neuseeländern. Eine Verwandlung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anke Richter
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besten Band aus Wellington.
    Claude erzählt uns die Geschichte vom Früchtekuchen, den ihre Tante bäckt. Für den Kuchen ist die Tante berühmt bis nach Irland, wo die Verwandten von der Marzipanglasur schwärmen. Deshalb musste Claude solch einen Kuchen bei ihrem letzten Europabesuch mit nach London nehmen. Der Ehemann der Tante, ein echter Heimwerkerkiwi, hatte für den Transport eigens eine Metallbox mit Henkel gebastelt, damit das gute Stück mit ins Handgepäck konnte. In Heathrow angekommen, ging Claude auf die Toilette. Übermüdet vom langen Flug vergaß sie den Früchtekuchen. Der fiel ihr erst irgendwann in der U-Bahn wieder ein. Nichts wie zurück – und direkt in die Hände der Terroristenjäger von Scotland Yard. Die Beamten hatten das verplombte Backwerk entdeckt und wollten es gerade in der Klokabine entschärfen.
    »Bombe oder Kuchen – das ist der Unterschied«, sagt Claude. »Wir gehen vom Guten aus, die anderen vom Schlechten. Wir sind halt alle Zwangsoptimisten.«
    Mir fallen die letzten Nationalwahlen ein. Das lief ähnlich herzerwärmend ab. Niemand wollte im Wahllokal einen Ausweis von mir sehen oder zumindest den Führerschein. Es hat völlig gereicht, dass ich gesagt habe, wer ich bin.
    »Ich meine – ich hätte die so einfach täuschen können«, sage ich.
    »Aber warum solltest du das?«, fragt Jonathan nur. Er steht an der Küchenzeile aus rohem Stahl, summt zur Musik und verteilt gebratene Whitebait-Fischchen mit Zitronenmarinade auf Wasserkressesalat – ein Ausbund an Kultiviertheit und Stil. Hinter der Glaswand färben sich die Wolken rosa, dann dunkelgold. Die Segelboote werfen lange Schatten aufs Wasser. Claudes Gesicht ist in Abendsonne getaucht. Unter ihrer schwarzen Lederjacke trägt sie ein T-Shirt, auf dem ›Die Seele ist eine dumme Pottsau‹ steht. Das ist wohl diesmal keine Spende vom Goethe-Institut.
    »Ihr Deutschen leidet doch immer so an eurer Geschichte. Wir leiden darunter, dass wir zu wenig an Geschichte haben. Stimmt’s, Jony?«
    Ihr Freund stellt die Teller vor uns hin und schraubt eine Flasche Sauvignon Blanc aus den Marlborough Sounds auf. Dabei rutscht sein silbernes Gliederarmband über die Manschettenknöpfe.
    »In London haben sie mich Kiwi immer belächelt. Es ist sehr subtil, aber ich spüre das sofort.«
    »Jony hat diplomatische Delegationen geleitet und in Den Haag promoviert. Internationales Menschenrecht, richtig? Aber in England wurde er behandelt, als ob er direkt vom Ernteeinsatz in Timaru kommt.«
    Jonathan nickt und kostet vom Wein.
    »Die denken, wir pflücken nur Äpfel und scheren Schafe. Dabei entwickeln wir hier neueste Technologien und sind politisch fortschrittlicher als das ganze Commonwealth zusammen.«
    Claude prostet mir zu und zwinkert dabei.
    »Auf die Vorurteile! Sonst könnten wir nicht für Überraschung sorgen.«
    Ich muss leider aufbrechen. Claude bringt mich die Straße hinunter zum Taxistand. Auf dem Courtney Place ziehen Leute in Schwarz johlend an uns vorbei, schwenken Fahnen, sprechen laut in ihre Handys. Die All Blacks haben gerade ein Rugbyspiel gegen den Erzrivalen Australien gewonnen.
    Von wegen Äpfel pflücken und Schafe scheren – echte Kiwis segeln, surfen, fahren Ski, wandern, rennradeln, mountainbiken, klettern Felsen hoch, paddeln Flüsse hinab, joggen, kajaken und springen Fallschirm. Am besten täglich. Da ich von diesen Sportarten nur vier leidlich beherrsche – Wandern mit eingerechnet –, befinde ich mich im Landesdurchschnitt in der untersten Abteilung: Stubenhocker / Invalide. Werfe ich auf einer Stehparty ›Fahrradrennen‹, ›vereiste Piste‹ oder ›Monsterwelle‹ als Köder in die Runde, kann ich die nächsten zwei Stunden ungehindert die Weinvorräte plündern, denn der Rest der Gästeschar ist beschäftigt. Ab und zu mal reinlauschen – »bei 97 Kilometern ging mir dann die Puste aus, aber ich hab Adrenalin-Ampullen dabei«, »den Platten habe ich geflickt, während ich freihändig auf der Felge weiterfuhr, also nichts Dramatisches« – und davon träumen, das nächste Mal auf Menschen zu treffen, die zum Beispiel körperbehindert sind. Wobei die dann sicher gerade für die Paralympics trainieren.
    Wie ein Alien treibe ich auf dem Courtney Place zwischen all den Fans hindurch und fühle mich fremd in dieser brodelnden, ausgelassenen, sportbegeisterten Menge. Jemand rempelt mich aus Versehen an, lächelt, hebt die Hand, ruft »sorry, mate!« Ein Taxi stoppt. Claude hält mir die

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