Was sich kusst das liebt sich
hatte Charlotte die Arme sinken lassen, wünschte Neve, sie hätte es nicht getan, denn es hatte sich seltsam tröstlich angefühlt. Sie hob den Kopf und blickte ihrer Erzfeindin in die Augen. Besser gesagt, ins linke Auge– das rechte war ganz rot und beinahe zugeschwollen. » Oh, Gott, war ich das etwa?«
» Ja, und es tut scheußlich weh«, sagte Charlotte. Es klang überraschend gleichgültig. » Schon gut, dafür habe ich dir die Lippe blutig geschlagen.«
Neve fasste sich vorsichtig an die Unterlippe. Tatsächlich, sie blutete. Sie blickte an sich hinunter. Ihr Wickelkleid hing halb geöffnet an ihr herunter. Sie wollte gerade nach ihrer Zehe sehen, da griff Charlotte nach einer tropfenden Eispackung. » Was willst du denn mit dem ganzen Zeug?«
» Na, essen«, knurrte Neve trotzig. » Ich hab’s gekauft, und jetzt gehe ich rauf und esse es. Alles.«
» Lass das lieber bleiben«, sagte Charlotte. » Wenn du so einen Scheiß isst, wirst du wieder fett.«
» Und? Du behauptest doch ohnehin immer, ich sei fett.« Neve versuchte aufzustehen, schaffte es aber nicht. » Und hör auf, nett zu mir zu sein. Es wirkt nicht überzeugend, und es wird nicht dazu führen, dass ich irgendwelche Fehler einsehe oder mich entschuldige.«
Charlotte schwieg eine Weile. Dann streckte sie die Beine aus und musterte Neve gedankenvoll. » Du bist echt laut…«
» Aber die meiste Zeit bin ich mucksmäuschenstill!«, fauchte Neve. Sie hasste es, ständig so wütend zu sein. Es war unheimlich anstrengend. » Ich kann völlig bewegungslos dasitzen, ohne auch nur einen Ton von mir zu geben, aber du klopfst trotzdem mit deinem verdammten Besenstiel an die Decke! Ich wage ja kaum noch zu atmen!«
» Aber…«
» Es ist meine Wohnung! Es ist mein gutes Recht, die Tür hinter mir zu schließen und mich vor der Welt zurückzuziehen, aber ich habe ja sogar Angst, mir eine Tasse Tee zu machen, weil du immer gleich ausflippst. Und nur zu deiner Information: Es ist auch mein gutes Recht, ein paar Tage die Woche die Wäscheleine zu benutzen, genau wie die Treppe zu meiner Wohnung, und…«
» Du weißt ja gar nicht, wie das ist, unter dir zu wohnen«, beharrte Charlotte, ohne Neve anzusehen. Sie starrte auf einen zerquetschten Laib Weißbrot. » Man hört jedes noch so leise Geräusch in diesem Haus.«
» So, so, und warum beschwerst du dich nie bei Celia und Yuri, die ständig mit den Türen knallen und ganz laut Musik hören? Warum hast du dich nie beschwert, wenn du wusstest, dass Max da ist?« Allein sein Name und die Erinnerung daran, wie es gewesen war, als er bei ihr ein- und ausgegangen war, erfüllte sie mit einem Schmerz, der alle anderen Schmerzen überdauern würde– die blutende Lippe, ja, selbst den abgehebelten Zehennagel. » Du bist eine tryrannische Zicke. Das warst du immer schon und wirst du immer bleiben.«
» Bin ich nicht«, erwiderte Charlotte entrüstet. » Wir kommen bloß nicht miteinander aus, das ist alles.«
Neve starrte sie ungläubig an. » Wir kommen nicht miteinander aus, weil du in der Schule zu einer regelrechten Hetzjagd gegen mich aufgerufen hast. Du hast dir diesen gemeinen Spitznamen ausgedacht, du hast mir nach dem Turnunterricht die Klamotten geklaut und deine Freundinnen dazu angestiftet, mich anzuspucken. Zugegeben, ich habe mich nicht gerade überschlagen vor Freude, als du Douglas geheiratet hast, aber du hast dich ja noch nicht einmal bei mir entschuldigt! Warum gibst du es nicht endlich zu?«
Charlotte zog die Nase kraus. » Damals in der Schule…« Sie blickte zur Decke. » Ich war todunglücklich, und wenn ich auf dir rumgehackt habe, ging es mir besser.«
» War das etwa schon alles?«
» Ich versuche ja gerade, es dir zu erklären.« Charlotte verzog das Gesicht. » Ich bin nicht besonders gut mit… Wörtern und so. Mein Dad war gerade von zu Hause abgehauen, und ich war zwei Wochen mit Dougie zusammen, dann hat er Schluss gemacht, und dann haben sie mich auch noch zum Förderunterricht verdonnert. Ich war ein totaler Loser, aber ich hatte den Eindruck, dass du der noch größere Loser bist, und das hat geholfen.«
» Und warum ausgerechnet ich?«
» Naja, du bist seine Schwester, und es war leichter, es an dir auszulassen als an ihm. Du hast dich immer so fein ausgedrückt, und du hattest die Nase ständig in einem Buch…« Endlich zeigte Charlotte erste Anzeichen von Verlegenheit. Reue wäre Neve lieber gewesen, aber Verlegenheit war besser als gar nichts. » Und ich
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