Was sich kusst das liebt sich
konnte ihn nur zu gut verstehen.
Mittlerweile waren ihre Tränen versiegt, und sie hatte einen Schluckauf, als sie zu dritt nach unten gingen. » Sollen wir dich noch über die Brücke bis zur Haltestelle Embankment bringen, oder ist Waterloo auch okay?«, fragte William, während sich Amy bei Neve unterhakte.
» Ich muss mit dem Taxi fahren«, schniefte Neve. » Ich habe Klebeband auf den Schuhsohlen.«
Sie wusste nicht, bei wem von ihnen die Erleichterung am größten war, als sie endlich auf der Rückbank eines schwarzen Taxis saß und über die Themse zurück in den Norden fuhr.
Der Fahrer war äußerst gesprächig und redete die ganze Zeit nur über die miese Leistung von Arsenal in der vergangenen Saison. Wahrscheinlich brach sie nur deshalb erneut in Tränen aus, damit er endlich den Schnabel hielt.
» Schlimme Trennung? Er ist es nicht wert.«
Und ob er das war. Max war jede einzelne Träne wert, dachte sie, als sie in die Stroud Green Road einbogen. Durch den Tränenschleier hindurch sah sie draußen den Perückenladen und die Leichenbestattungsfirma vorbeigleiten, und dann die tröstliche Leuchtreklame von Tesco.
» Lassen Sie mich gleich hier raus, bitte!«, rief sie.
Sie legte vier, fünf Schritte in ihren mit Klebeband versehenen Sandalen zurück, deren Lederriemchen ihr ins Fleisch schnitten, dann streifte sie die Dinger ab und marschierte barfuß in den Supermarkt.
Der Mann vom Sicherheitsdienst am Eingang musterte sie mit schmalen Augen, als sie sich einen Einkaufskorb schnappte, aber inzwischen war ihr alles egal. In ihr gähnte ein riesiges Loch, und sie kannte nur einen Weg, um es zu stopfen, denn nun, da sie fast ihre Traum-Kleidergröße erreicht hatte, ging es ihr schlechter denn je.
Als sie noch dick gewesen war, hatte ihr Fett sie vor der Welt beschützt. Die Leute hatten nicht sie gesehen, sondern nur ihren Körper, und sie hatten sie für dumm und faul gehalten. Es ist einfach, Erwartungen zu übertreffen, die von vornherein nicht besonders hoch sind.
Ihr Fett war ihre Carte blanche gewesen, eine praktische Ausrede dafür, dass sie mal wieder eine Jobabsage bekommen hatte oder dass sie nie einen Freund gehabt hatte. Eine Rechtfertigung für all ihre Bruchlandungen, Misserfolge und Zurückweisungen. Doch jetzt, wo das Fett nicht mehr da war, konnte sie sich nicht mehr dahinter verstecken. Jetzt war sie das Problem. Mit Körpergröße58 hatte sie sich sicher und behütet gefühlt. In diesem Augenblick hätte sie alles für diesen Schutzpanzer gegeben. Alles.
Kapitel 41
Als Erstes landete eine Packung Milchschokoladenschaumküsse von Tunnock’s in ihrem Einkaufskorb. Neve betrachtete die Schachtel einen Moment zögernd. Dann gab ihr Magen ein Knurren von sich. Ihre Kehle schmerzte vom Weinen, ihr Herz blutete. Sie war mehr als reif für ein paar kulinarische Seelentröster.
Ihr Entschluss stand fest, und der Rest war ganz einfach. Drei bunte Packungen Chips– Salt & Vinegar, Bacon, Cheese & Onion–, wie hatte sie nur so lange ohne Chips leben können? Als Nächstes alles, was sonst noch Schokolade enthielt: Schoko-Haferkekse, Schoko-Vollkornkekse, Schokoladenkuchen mit einer dicken Glasur aus Schokoladenbuttercreme. Und Käse– gegrillt, auf dicken Weißbrotscheiben, mit Ketchup obendrauf. Eine Packung Chunky-Monkey-Eis von Ben & Jerrys, und gleich noch eine in der Geschmacksrichtung Phish Food– Karamell und Marshmellows. Wenn schon, denn schon. Dabei war sie noch gar nicht am Süßigkeitenregal vorbeigekommen. Neve warf eine Handvoll Schokoriegel in ihren schwer beladenen Korb und klemmte sich auf dem Weg zur Kasse noch eine Flasche Cola unter den Arm.
Auf dem Nachhauseweg piekste der raue Asphalt ihre nackten Fußsohlen, aber auch das war ihr egal. Das bisschen Schmerz hielt sie jetzt auch noch aus, nach allem, was sie bereits mitgemacht hatte. Nachdem sie Jahre ihres Lebens darauf verschwendet hatte, einen Mann zu lieben, der nur in ihrem Kopf existiert hatte und in ihrer Besessenheit gar nicht bemerkt hatte, dass sie bereits jemanden gefunden hatte, der real und etwas Besonderes und sehr Wertvolles war.
Neve wankte durch den Vorgarten auf die Haustür zu und schnalzte verärgert mit der Zunge, weil sie ihre wertvolle Fracht abstellen musste, um den Schlüssel aus der Tasche zu fischen. Im Flur war es dunkel. Sie ergriff mit einer Hand ihre drei Tüten, trat ein und tappte mit der anderen nach dem Lichtschalter. Dabei stolperte sie, stieß mit dem großen Zeh an ihr
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