Was sich kusst das liebt sich
Fahrrad, das prompt umkippte, und schrie vor Schmerz auf, als ihr der Lenker auf den Fuß knallte.
» Himmelherrgott noch mal!« Sie war so zwischen Wand und Fahrrad eingekeilt, dass sie nicht einmal die Tüten abstellen konnte. Also bückte sie sich schnaufend und keuchend, hob ihr Rad auf und stieß es scheppernd an die gegenüberliegende Wand. Dann versuchte sie, auf einem Bein hüpfend, ihre Einkäufe abzustellen und zugleich den verletzten Fuß zu fassen zu bekommen. Als sie sich vornüberbeugte, wurde ihr schlecht. Sie hatte eine sehr niedrige Schmerzgrenze, und ihre Zehe fühlte sich an, als wäre sie nicht mehr zu retten.
Das Licht wurde angeknipst. » Was zum Teufel treibst du denn schon wieder?«, tönte Charlottes Stimme von oben. » Musst du immer so einen verdammten Radau machen?«
Neve hob den Kopf und erspähte das vor Wut verzerrte Gesicht ihrer Schwägerin über dem Treppengeländer, kümmerte sich jedoch nicht weiter um sie, sondern nahm stattdessen die lädierte Zehe in Augenschein. » Oh, Gott.« Der Nagel hatte sich vom Nagelbett gelöst, darunter quoll Blut hervor.
Sie schauderte, kam aber nicht mehr dazu zu überprüfen, ob er noch festhing oder nicht, denn Charlotte stürmte die Treppe hinunter.
» Was ist nur los mit dir?«, keifte sie, noch ehe sie die unterste Stufe erreicht hatte. » Was bildest du dir eigentlich ein, ständig so einen Krach zu machen und tagelang die Wäscheleine zu blockieren? Du bist nicht die Einzige, die ihre Wäsche trocknen muss. Du bist sowas von egoistisch! Ich kenne niemanden, der so egoistisch ist wie du.«
» Entschuldige, Charlotte, aber ich bin hier gerade beschäftigt«, bellte Neve.
» Das hast du jetzt davon!« Charlotte rammte ihr einen Finger in die Brust. » Das wäre nie passiert, wenn du dein Rad nicht immer hier abstellen würdest. Und wenn du nicht so eine fette Kuh wärst.«
» Wie war das?«, sagte Neve. Ihre Stimme war geradezu unheimlich ruhig, aber innerlich tobte sie.
» Du bist wohl nicht nur blöd, sondern auch noch taub!«, zeterte Charlotte und bohrte Neve erneut einen Finger in die Brust. » Du bist noch genau derselbe ekelige Fettklops wie in der Schule. Ich kann nicht fassen, dass ich ausgerechnet unter dir wohne, Würgi.«
Neve schluckte und holte tief Luft, rührte aber keinen Finger. Die warme, schwüle Hitze der Sommernacht um sie herum knisterte förmlich. » Fass mich nicht an«, presste sie hervor. Sie erkannte ihre eigene Stimme nicht wieder.
» Was willst du denn dagegen unternehmen?«, höhnte Charlotte.
Neve merkte gar nicht, wie ihre Hand nach oben schnellte. Sie spürte nur, wie sie auf die Wange ihrer Schwägerin traf, spürte das Zittern des Aufpralls bis in den Oberarm und sah, wie Charlotte durch die Wucht der Ohrfeige an die Wand geschleudert wurde.
» Ich bin verdammt noch mal nicht fett, und auch nicht blöd! Wie kannst du es wagen, so mit mir zu reden? Was gibt dir das Recht, mich so zu behandeln?« Jedes Wort war von einem Faustschlag begleitet, während Charlotte verzweifelt mit den Armen wedelte und versuchte, Neve zu entkommen. » Ich hasse dich! Ich hasse dich, wie ich noch nie jemanden gehasst habe!«
Charlotte schrie ebenfalls wie am Spieß, und als sie begriff, dass Neve nicht aufhören würde, begann sie, sich zu wehren und kämpfte sich aus der Ecke heraus, in die sie sich hatte drängen lassen.
Sie trampelten über die Einkaufstüten hinweg, aber Neve verspürte nur noch den Drang, ihrer Schwägerin die Augen auszukratzen oder sie so lange zu würgen, bis ihre Hasstiraden ein für allemal aufhörten. » Ich bringe dich um!«, brüllte sie. Irgendwann registrierte sie, dass Charlotte nicht mehr kreischte und dass nebenan jemand an die Wand hämmerte. Es klang, als wären die Scoins mit einem Rammbock zugange.
Charlotte nutzte den kurzen Augenblick, in dem Neve abgelenkt war– aber nicht, um sie zu schlagen oder zu kratzen. Sie stürzte sich auf sie und schlang die Arme fest um sie. » Hör auf«, keuchte sie. » Hör auf, Neve.«
Neve spürte, wie ihre Beine nachgaben. Sie sank zu Boden, zitternd und schwer atmend, und es dauerte eine Weile, bis sie wieder klar denken konnte und feststellte, dass ihr Gesicht an Charlottes Hals vergraben war und dass nicht nur ihr großer Zeh, sondern ihr ganzer Körper schmerzte, innerlich wie äußerlich.
» Lass mich los«, sagte sie und versuchte, sich zu befreien.
» Versprich mir erst, dass du mich nicht mehr würgst.«
» Versprochen.« Kaum
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