Was uns nicht gehört - Roman
drin schnell fertig, ganz schnell.»
Er stand auf und lehnte sich zwischen zwei Kinderfotos gegen die Wand. Die Kinder lächelten, aber ihre Gesichter sahen aus, als hätten sie zwei Minuten zuvor noch geweint. Beide kamen erkennbar nach ihrem Vater, eigentümlicherweise jedoch hatten sie untereinander keinerlei Ähnlichkeit, ein Umstand, den ich mir auf die Schnelle nicht erklären konnte. Auch der Mann lächelte, ungleich fröhlicher als seine Kinder, dann ließ er mich mit einer kurzen Geste seiner Hand hinauswerfen.
Zurück in meiner Wohnung studierte ich das Programm des Mahagoni . Auf einen Akkordeonabend mit dem Akkordeonorchester Dinkelsbühl folgte ein Diavortrag über Kreuzfahrten im Mittelmeer und darauf ein Abend mit französischen Chansons. Nein, drei Abende mit französischen Chansons, aus unerfindlichen Gründen hatte man ein und dieselbe Veranstaltung mehrmals hintereinander ins Programm genommen. Ein kleines Foto zeigte die Sängerin, die große Ähnlichkeit mit Mireille Mathieu hatte und die sich zudem ihrer Initialen bediente. Marie Mercier, glaubte man dem Programmheft, war sie «die Wiedergeburt des französischen Chansons», dabei hatte ich nie davon gehört, dass das französische Chanson überhaupt gestorben war.
Am nächsten Mittag sprach ich im Mahagoni vor und wurde von Roloff, einem massigen Mann mit rotgeäderten Backen, aus dem Stand für den Abend engagiert.
«Wenn Jo dich schickt», sagte er, «dann wird’s schon stimmen», und obwohl ich mich an seinem überfallartigen Du störte, schlug ich in seine Pranke ein, die er mir seltsam verdreht entgegenstreckte.
Roloff zeigte mir den Veranstaltungssaal, einen schmalen, fensterlosen Raum, der kaum mehr als fünfzig Besuchern Platz bot und dessen Decke so niedrig war, dass ich sie mit ausgestrecktem Arm hätte berühren können.
«Nicht gerade die Royal Albert Hall», sagte er, «aber irgendwie hänge ich dran.»
Die Garderobe befand sich im Vorraum, der nahezu dieselbe Dimension hatte wie der Veranstaltungssaal, mit dem einzigen Unterschied, dass die Decke fast doppelt so hoch war. Auch die Garderobe selbst schien völlig überdimensioniert. Sie erstreckte sich über die gesamte Längsseite des Raums und hatte Haken für mindestens fünfmal so viele Besucher, wie der Saal fasste. Alles im Mahagoni war ohne Maß, nicht zuletzt mein Job, der mir mit einem Mal völlig unsinnig vorkam. Wahrscheinlich hatte Roloff den kleinsten Veranstaltungssaal der ganzen Stadt, niemand brauchte für so etwas einen Garderobendienst. Und noch weniger brauchte der Garderobendienst mich. Ich war Buchhalter, ein Jahr mehr bei Walter & Kremer und ich hätte zwanzig Berufsjahre voll gehabt, warum sollte ausgerechnet ich auf einmal Jacken von Menschen aufhängen, die Akkordeonmusik liebten? Ich war eine glatte Fehlbesetzung, so wie mein Ersatzritter eine Fehlbesetzung gewesen war, genauso gut konnte man Sonja in eine Balletttruppe stecken oder Loos in ein Ausbildungslager für Elite-Einheiten.
«Ich weiß, was du denkst», sagte Roloff, «aber ohne Jacke auf dem Schoß hört man einfach besser zu.»
Vermutlich, so dachte ich, war auch das unsinnig, so unsinnig, dass es fast schon wieder plausibel klang. Nein, das klang nicht nur plausibel, es stimmte! Ich erinnerte mich, im letzten Advent in einem Konzert für Oboe und Orchester gewesen zu sein, bei dem ich unter der Last meines Wintermantels fast gestorben wäre. Ich hatte das Geld für die Garderobe sparen wollen und saß in dem prächtig geheizten Saal des Stadttheaters mit meinem prächtig wärmenden Steppmantel auf den Knien, ringsherum kein freier Platz, auf den ich ihn hätte legen können. Schon nach zehn Minuten schwitzte ich so sehr, dass ich meinen Geiz bereute, und als ich weitere zehn Minuten später meine Nebensitzerin flüsternd nach der Pause fragte, flüsterte sie zurück, dass es keine Pause gebe. Schließlich legte ich den Mantel in meiner Not vor mich auf den Boden, und als ich ihn zwei Stunden später vor dem Theater wieder anzog, hatte er am Ärmel einen Fleck.
Roloff legte mir seine Pranke auf den Rücken und schob mich aus dem Saal.
«Der Letzte war gerade mal zwei Wochen hier, besser, du nimmst die Sache ernst.» Er blickte mich streng an. Zwischen seinen Schneidezähnen sah ich ein paar Essensreste hängen, ich nickte und ging.
Mein Vater lag auf seinem Bett und starrte die Wand an.
«Er will nicht mehr aufstehen», sagte die Schwester und stellte sein Abendtablett auf den
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