Was uns nicht gehört - Roman
anderes auf die Plastikfolie notiert hatte. Einen Namen, leicht verschmiert, «Schemmer» oder «Schimmer», der schon jetzt den nächsten Tod in diesem Bett markierte, noch bevor sich der neue Bewohner darin ein erstes Mal schlafen gelegt hatte.
«Keine Ahnung, was das wird», sagte ich.
«Das weiß man nie», erwiderte Maria, «aber wenn man es nicht ausprobiert, bekommt man es auch nie heraus.»
Sie nahm mich am Arm und zog mich aus dem Fahrstuhl in den Flur und, als würde sie sich auf Anhieb auskennen, weiter in Richtung der Patientenzimmer.
«Ganz hinten», sagte ich, und als wir kurz darauf am Pausenraum der Schwestern vorbeikamen, schien es mir, als würde dort drinnen binnen Bruchteilen von Sekunden alles Leben erstarren. Das Palaver, das uns kurz zuvor noch durch den Flur entgegengeschwappt war, verstummte, eine plötzliche Stille, die nur durch das Klacken von Marias Absätzen auf dem Linoleumboden durchbrochen wurde, der eine lauter als der andere, als würde sie hinken.
«Noch Zweifel?», flüsterte Maria.
Sie verlangsamte ihren Schritt, ließ sich aber schon im nächsten Moment bereitwillig von mir weiterziehen, und als wir Sekunden später vor dem Zimmer meines Vaters ankamen, zögerte ich nur kurz, bevor ich die Klinke herunterdrückte und mich zusammen mit Maria ins Zimmer schob.
Mein Vater saß angezogen in seinem Sessel und hatte die Beine auf einem kleinen Hocker aufgestellt, den ich nie zuvor in seinem Zimmer gesehen hatte. Neben ihm auf dem Tisch stand das Tablett mit seinem Frühstück, vom dem er außer einem Streichkäse und einer Scheibe Knäckebrot nichts übrig gelassen und das er nach dem Essen sorgsam aufgeräumt hatte.
Er musterte erst mich, dann Maria, und nickte schließlich anerkennend mit dem Kopf.
«Sie sind ein Showtalent», sagte er, «das sehe ich gleich.»
Ich wusste nicht, woher mein Vater dieses Wort nahm, und war mir sicher, dass er es nie zuvor in seinem Leben benutzt hatte, aber jenseits dessen, was ich wusste und was nicht, kamen mir seine Begrüßungsworte wie ein Versprechen vor. Wie es schien, war er Maria gewogen, was mehr konnte man für den Anfang erwarten. Doch als sie kurz darauf zu singen begann, versank er binnen Sekunden in seine altbekannte Apathie. Die Augen geschlossen, rutschte sein Kopf zur Seite ins Ohr seines Sessels, und wie so oft war mir nicht klar, ob er noch irgendetwas von dem wahrnahm, was um ihn herum geschah. Maria freilich ließ sich davon nicht beeindrucken. Sie sang Es geht mir gut, Chéri und direkt danach Hinter den Kulissen von Paris , und sie tat es, als hätte sie einen vollen Saal vor sich, einen vollen Saal mit glücklichen Gesichtern, vor denen sie sich nach jedem Lied artig verbeugte, auch das vergaß sie nicht.
Maria sang ohne Begleitung. Wir hatten ihre Anlage im Wagen gelassen, und zum ersten Mal glaubte ich, ein paar Unreinheiten in ihrer Stimme zu bemerken, die ihre groupe plastique bislang immer kaschiert hatte. Manchmal ein kurzes Wegkippen, wenn sie in höheren Lagen sang oder einen Ton länger, als ihr lieb war, halten musste, aber letztlich machten diese kleinen Verschiebungen ihre Stimme für mich nur noch anziehender. Möglicherweise hatte Maria recht, und ihr Gesang hielt dem Mireille Mathieus in Wahrheit nicht stand, doch was bedeutete das schon. Es bedeutete nichts für mich, und noch weniger bedeutete es etwas für meinen Vater, der gewiss keine Erinnerung an Mireille Mathieu hatte, nicht an sie und nicht an ihre Stimme, und vielleicht war der Umstand, dass er in seiner Welt nichts mehr miteinander vergleichen musste, eine der wenigen Sachen, um die man ihn beneiden konnte.
«Weißt du», flüsterte Maria mir nach ihrer zweiten Verbeugung zu, «dass du ihm ähnlich siehst?»
Sie lächelte mich kurz an, aber noch bevor ich darüber nachdenken konnte, ob ich mich über ihren Befund freuen sollte, begann sie mit ihrem dritten Lied, Aloa-he , und auf einmal kam wieder ein bisschen Leben in meinen Vater. Er richtete den Kopf auf und öffnete seine Augen zu schmalen, argwöhnischen Schlitzen, ein Gesichtsausdruck, den ich von ihm zu kennen glaubte und der mir weit mehr in die Vergangenheit zu gehören schien als in sein jetziges Leben. Vielleicht, so dachte ich, würde er schon im nächsten Moment Marias Konzert beenden, indem er ihr eine seiner Unflätigkeiten entgegenschleuderte oder sein Tablett vom Tisch fegte oder, schlimmer noch, abermals um Hilfe rief, aber nichts dergleichen geschah. Er saß einfach nur
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