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Was uns nicht gehört - Roman

Was uns nicht gehört - Roman

Titel: Was uns nicht gehört - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nagel , Kimche AG <Zürich>
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durch die Scheibe dabei zugesehen, wie er mit Momo spielte, manchmal noch nicht einmal das. Auch jetzt, keine zwei Meter voneinander entfernt, kam es mir vor, als stünde eine Scheibe zwischen uns, eine Scheibe, die den Besucher Epkes vom Patienten Epkes trennte und hinter der mein Vater fröhlich war wie selten, wenn er mit Menschen zu tun hatte.
    «Viel», sagte er, «hätte nicht gefehlt, und sie hätten mich nicht wieder gehen lassen. Besser man ist da vorsichtig.»
    «So ist es», erwiderte Maria und nickte ernst, «genau so ist es», dann begann sie erneut zu singen. Sie sang ein Lied, das ich nicht kannte und das entfernt nach Caterina Valente klang, aber nach ein paar Takten brach sie ab und bedeutete mir mit ausgestrecktem Arm, mich neben meinen Vater zu setzen.
    «Ich hätte gerne mein ganzes Publikum im Blick», sagte sie, und als ich nicht sofort reagierte, nahm sie einen der Stühle vom Tisch am Fenster und stellte ihn eigenhändig neben den Sessel meines Vaters.
    Ich zögerte weitere Sekunden, aber schließlich stand ich von der Bettkante auf und setzte mich zu ihm. Maria nickte zufrieden, und auch mein Vater nickte, wenngleich nicht in meine Richtung, und im selben Moment, da Maria ihr Lied wieder aufnahm, begannen seine Finger erneut auf der Armlehne zu schaben. Marias Lied war leicht und hüpfend und möglicherweise für meinen Vater zu schnell. Sein Mund malmte, als gälte es, ein zähes Stück Fleisch zu Brei zu kauen, und als er kurz darauf abrupt damit aufhörte und stattdessen begann, mit den Zähnen seine Unterlippe zu traktieren, brach Maria ihr Lied ein zweites Mal ab. Sie ging zu meinem Vater und legte ihm eine Hand auf die Schulter und machte weiter nichts, genug, um sein Gesicht wieder ein wenig zu entspannen.
    «Gibt es ein Lied», sagte sie leise zu mir gewandt, «das er früher gern gehört hat?»
    Ich schüttelte den Kopf. «Mein Vater kennt keine Musik.»
    «Blödsinn», erwiderte Maria, «jeder Mensch kennt irgendwelche Lieder, streng dich mal ein bisschen an!»
    «Na gut», sagte ich und dachte nach, aber so sehr ich mich auch bemühte, mir fiel nichts ein. Natürlich hatte mein Vater in seinem Leben Musik gehört, aber wie sollte ich wissen, welche Lieder im Adlerkeller im Radio gelaufen waren, wenn er dort auf dem Heimweg von der Tischlerei sein Feierabendbier getrunken hatte, und welche, wenn er nach dem Tod meiner Mutter die Supermarktregale entlanggegangen war. Ich wollte mein Nachdenken, das ohnehin keins war, gerade einstellen, als mir urplötzlich doch noch eine Idee kam. Ich wog sie einen Moment, dann sah ich zu Maria auf und nickte ihr zu.
    «Weihnachtslieder», sagte ich, «wir haben Weihnachtslieder gehört.»
    Maria war begeistert. «Welche? Sag schon, was genau habt ihr gehört?»
    «Keine Ahnung, Leise rieselt der Schnee , O du Fröhliche , Ihr Kinderlein kommet , so was halt.»
    «Ja, ja», erwiderte Maria, «die hört jeder, aber welches mochte er am liebsten?»
    Noch einmal dachte ich nach und sah nun sogar eine der Plattenhüllen vor mir, Reihen schwarz befrackter Jungen mit weißen Krägen und aufgerissenen Mündern, der Tölzer Knabenchor, auch das fiel mir mit einem Mal wieder ein.
    «O Tannenbaum» , sagte ich, «ich glaube, damit hat die Platte angefangen.»
    Maria nickte. Erneut stellte sie sich vor meinem Vater auf, und nachdem sie sich einen Augenblick lang gesammelt hatte, begann sie zu singen. Ich sah kurz zu ihr, dann zu meinem Vater, den in der Tat ein kurzer Moment des Wiedererkennens zu durchzucken schien, und auf einmal waren auch meine Erinnerungen wieder da. Erinnerungen an meine Eltern vor dem Weihnachtsbaum, an das immergleiche dunkelrote Samtkleid meiner Mutter, das sich festlich schimmernd um ihre Körperwülste raffte, und den immergleichen Protest meines Vaters, der nicht einsah, sich an Weihnachten etwas anderes anzuziehen als sonst, und daran, dass er am Ende doch immer ganz gerührt in die Kerzen schaute und uns beide mit festen Händen fasste, «schaut her», sagte er dann, zuverlässig wie das Kleid meiner Mutter, «wieder ein Jahr.» Dazu der Gesang der Tölzer Knaben, der alles in wolkigen Kinderkitsch hüllte, und nur daran, wo Pschorri während all dessen saß, erinnerte ich mich nicht mehr.
    Wenn die Platte zu Ende war, nahm sie mein Vater sorgsam vom Plattenteller und schob sie wie eine Preziose zurück in die Hülle, wo sie ruhte bis zum nächsten Heiligen Abend, dann aßen und stritten wir, und erst wenn wir damit fertig waren,

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