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Was uns nicht gehört - Roman

Was uns nicht gehört - Roman

Titel: Was uns nicht gehört - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nagel , Kimche AG <Zürich>
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aber was er sah, schien ihn zu langweilen, und er flog weiter. Erst jetzt bemerkte ich, dass man den Balkonstuhl, auf dem ich bisweilen saß, mit einer Plastikfolie überzogen hatte, gerade so, als sei das Jahr bereits überstanden. Ich ertappte mich dabei, wie ich begann, die Folie nach einer aufgemalten «29» abzusuchen, aber ich fand nichts, keine Zahl und keinen Namen, ein Umstand, der mich auf unbestimmte Art beruhigte.
    «Mein Vater», sagte Maria, «ist gestorben, als ich fünfzehn war. Danach habe ich mich immer in Männer verliebt, die ungefähr so alt waren wie er. Mit dreien davon war ich verheiratet, einmal vier, einmal zwei und einmal dreieinhalb Jahre lang. Den letzten habe ich erschlagen, dafür saß ich genau sieben Jahre, einen Monat und siebzehn Tage im Gefängnis. Das ist so ungefähr mein Leben.»
    Maria hatte leise gesprochen, und ich versuchte mir einzubilden, eine andere hätte ihre Sätze gesagt, eine Radiostimme oder eine Besucherin im Nachbarzimmer, die Wände im Altenheim waren dünn. Ich schwieg, ich nickte, ich sah zum Fenster und suchte nach einem neuen Spatz, dem ich beim Hüpfen zusehen konnte. Aber da war kein Spatz, und da war auch sonst nichts, gegen das ich Marias Sätze hätte eintauschen können, nichts, außer einem Glucksen der Heizung, das schon vorher dagewesen war und das für nichts taugte, noch nicht einmal dafür, davon gestört zu werden, so leise war es. Ich wandte meinen Blick vom Fenster ab und sah Maria an. Sie wirkte klar und entschlossen und trotz allem seltsam fragil. Ihre Hände zitterten ein wenig, wie auch ich ein wenig zitterte, «ich dachte», sagte Maria, «du solltest das wissen.»
    «Warum jetzt?»
    «Vielleicht willst du nicht, dass so jemand wie ich für deinen Vater singt. Dann wäre es gut, wir hören damit auf.»
    «Und was, wenn ich dir das alles gar nicht glaube?»
    «Dann ist mir das auch recht. Vielleicht wäre das sogar das beste. Auch wenn ich dann ein bisschen wie eine Hochstaplerin dastehe, aber das bin ich ja ohnehin.»
    Noch einmal schaute ich zum Fenster und sah, dass der Spatz zurück war. Anders als zuvor hüpfte er nicht, sondern saß unbewegt auf der Ecke des Geländers und wandte uns den Rücken zu, und irgendwie kam er mir traurig dabei vor. Ein trauriger, über sein Leben nachsinnender Spatz, dem alle Lust am Hüpfen vergangen war. Ich sah ihm beim Dasitzen zu und begann gerade selbst traurig und nachsinnend zu werden, als ich aus den Augenwinkeln sah, wie Maria auf mich zukam.
    «Und warum ausgerechnet Mireille Mathieu?», fragte ich.
    Maria lachte und setzte sich neben mich auf die Bettkante.
    «Das wüsste ich auch gerne, ich fürchte, ich mag sie einfach. Außerdem ist sie eine Marktlücke, zumindest in Altenheimen.»
    «Eine Marktlücke», wiederholte ich ein wenig abwesend und hörte, wie sich draußen auf dem Flur erneut Schritte näherten und kurz vor dem Zimmer innehielten, aber niemand klopfte und niemand öffnete die Tür, und schließlich gingen die Schritte weiter. Augenblicke später wachte mein Vater auf. Er schrak hoch, als käme er direkt aus einem Traum, doch als er Maria und mich nebeneinander auf seiner Bettkante sitzen sah, lächelte er wie ein vom Leben verwöhnter Mann.
    «Nur zu», sagte er, «Sie sind noch jung.»
    Maria griff nach meiner Hand und drückte sie kurz, dann stand sie auf.
    «Heute dürfen Sie sich etwas wünschen. Sie wünschen sich ein Lied, und ich singe es für Sie.»
    Mein Vater musterte sie einige Sekunden, dann zwinkerte er ihr zu. «Das könnte Ihnen so passen. Mich hier in Schwulitäten bringen.»
    Er hob die Hand und fuchtelte ein wenig mit ausgestrecktem Zeigefinger in der Luft herum, dann lachte er. Ein raues, altes Lachen, das immer wieder wegbrach, das aber dennoch nicht ohne Kraft war.
    «Keine Angst», sagte Maria, «ich singe nur. Um die Schwulitäten müssen sich andere kümmern.»
    Mein Vater nickte, und ich glaubte zu erkennen, wie er über Marias Worte nachdachte. Ich wusste nicht, wann ich ihn zuletzt so gesehen hatte, oder besser, wann zuletzt ich ihm zugetraut hatte, über irgendetwas nachzudenken, und ich begann, Maria um ihre Unbefangenheit zu beneiden. Vielleicht war es kein gewöhnliches Gespräch und mein Vater mit seinen Antworten nicht sonderlich treffsicher, aber was spielte das schon für eine Rolle. Maria und er unterhielten sich, etwas, das ich in den letzten Jahren kaum je versucht hatte. Stattdessen hatte ich mich auf den Balkon verzogen und meinem Vater

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