Was uns nicht gehört - Roman
packten wir Geschenke aus. Geschenke meiner Eltern für mich und von mir für meine Eltern, sie selbst schenkten sich nie etwas, «wir haben doch uns», sagte meine Mutter, ein Satz, dem ich schon früh begonnen hatte zu misstrauen.
Maria sang O Tannenbaum zu Ende und fügte nahtlos Ihr Kinderlein kommet an, und als ich zu Beginn von Stille Nacht erneut zu meinem Vater sah, blickte ich direkt in seine Augen. Ich wusste nicht, wie lange er mich schon so anschaute, fest und dennoch auf eine eigentümliche Art zärtlich, ein Blick, den ich so nicht von ihm kannte und der doch, ich war mir sicher, mich meinte. Vielleicht schaute auch ich zärtlich, zärtlich und verwundert, was immer das hier war, es war nicht das, was ich sonst mit ihm erlebte. Mein Vater schob sich ein wenig auf dem Sessel zurecht und beugte mir seinen Oberkörper einige Zentimeter entgegen, Augenblicke später griff er nach meiner Hand. Ja, mein Vater legte seine Hand auf meine, überraschend warm und überraschend schwer, dabei fast beiläufig und ohne jedes Pathos, gerade so, als gehörten Gesten wie diese zu unseren Alltagsritualen, ein ungebrochener Strom von Bezeugungen unserer Nähe. Ich sah zu Maria, die übergangslos die zweite Strophe anstimmte und die sich selbst gerade ein bisschen in ihren Gefühlen zu verlieren schien, und vielleicht wurde mir erst in dieser Sekunde wirklich bewusst, was gerade geschah.
Unsere Hände ruhten noch immer aufeinander, als Maria mit Stille Nacht zu Ende war, drei Strophen oder vier, irgendwann hatte ich aufgehört zuzuhören. Sie fing kein neues Lied an, sondern ging stattdessen zum Fenster und schaute hinaus. Ich wusste, was sie dort sah, einen grauen Park, über dem ein grauer Oktoberhimmel hing und in dem im besten Fall ein paar graue Menschen spazierengingen, aber ich glaubte, dass sie ohnehin anderes im Sinn hatte. Ihre Pause galt mir und meinem Vater, unserem Händehalten, unserer plötzlichen Nähe, und erst jetzt fiel mir wieder ein, dass Stille Nacht auch auf unserer Platte das letzte Lied gewesen war, das letzte Lied, das wir vor dem Weihnachtsessen immer gehört hatten. Ich sah zu meinem Vater, der mir kaum merklich zunickte, und wartete insgeheim schon darauf, dass er seinen obligatorischen Weihnachtssatz sagte, aber mein Vater schwieg und nickte mir ein zweites Mal zu, und als ich schon nichts dergleichen mehr erwartete, sagte er: «Mein Gott, das waren noch Zeiten.»
«Ja, ja», erwiderte ich überschwänglich, «das waren Zeiten, unsere Zeiten waren das.»
Ich legte meine freie Hand auf die meines Vaters und rückte ein gutes Stück auf ihn zu, ein Fehler, wie sich noch im selben Augenblick zeigte. Verstört zog er seine Hand aus meiner Umklammerung und brachte sie in seinem Schoß in Sicherheit, die Schultern ein wenig nach vorne gebeugt, als müsse er auch den Rest seines Körpers vor mir schützen.
«Keine Angst, Papa», sagte ich, «ich bin es doch, Paul», aber mein Vater reagierte nicht auf meine Worte, oder reagierte doch, indem er sich noch mehr in sich zusammenrollte, und als ich ihm mit der Hand vorsichtig über den Rücken strich, begann er leise zu wimmern.
«Lass uns gehen», hörte ich Marias Stimme vom Fenster, «dein Vater ist müde.»
Ich drehte mich zu ihr um und sah sie unverändert stehen, den Blick noch immer hinaus in den Park gerichtet. Sie nickte zweimal kurz gegen die Scheibe, dann drehte sie sich um und kam mit leisen Schritten auf uns zu.
«Es war mir eine Ehre», sagte sie, halb zu mir, halb zu meinem Vater gewandt, und verneigte sich ein letztes Mal vor ihm, dann fasste sie nach meiner Hand.
«Glaub mir, ich kenne mich aus mit alten Menschen, und dieser alte Mensch hier hat für heute genug erlebt.»
«Vielleicht noch Alle Jahre wieder », sagte ich, «das mochte er auch immer.»
Maria schüttelte den Kopf. «Eigentlich kann ich Weihnachten nicht leiden, das hier musst du mir hoch anrechnen.»
Sie half mir auf und umarmte mich. Ich spürte ihren Körper eng an meinem, ihre Brüste an meiner Brust, ihr Geschlecht an meinem. Über ihre Schulter schauend, sah ich, wie sich mein Vater unterdessen erneut in seine inneren Welten zu verabschieden begann. Zwar hatte er seine Schultern wieder aufgerichtet, sein Blick aber schien mir schon nicht mehr wirklich anwesend zu sein.
«Ja», sagte ich, «mehr als alles andere.»
Maria lachte und schob mich von sich. «Mehr gibt’s ja auch nicht, und jetzt los, die nächsten warten schon.»
Die Sonne hing bereits tief
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