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Was uns nicht gehört - Roman

Was uns nicht gehört - Roman

Titel: Was uns nicht gehört - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nagel , Kimche AG <Zürich>
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über den Häusern, als wir zurück in Bingen waren. Marias Konzert begann um halb acht, und es blieb ihr kaum mehr als eine Stunde, um sich auf ihren Auftritt vorzubereiten. Trotzdem konnte ich keine Unruhe in ihr erkennen, selbst dann nicht, als ihr Verstärker beim Soundcheck mehrere Male aussetzte und weitere zwanzig Minuten verrannen, bis der Hausmeister des Altersheims schließlich Ersatzkabel aufgetrieben hatte, die das Problem behoben.
    «Ich hatte meinen Auftritt schon», sagte sie, «das hier ist nur noch die Zugabe.»
    «Vielleicht ein bisschen wenig Applaus», erwiderte ich.
    Maria schüttelte den Kopf und drehte noch einmal an den Reglern ihres Verstärkers, dann schaltete sie die Anlage aus und wandte sich zu mir um.
    «Bei den Alten darf man nicht so sehr auf die Hände schauen, das bringt nichts.»
    Sie trug nach wie vor ihre Mireille-Mathieu-Garnitur vom Vormittag, aber sie bestand darauf, sich vor dem Konzert noch einmal umzuziehen, dabei wusste ich, dass sie nur dieses eine Konzertkleid besaß.
    «Künstlergehabe», sagte sie, als sie es zurück im Wagen über den Kopf zog, «besser du nimmst das nicht weiter ernst.»
    «Ich nehme alles an dir ernst», erwiderte ich, «alles.»
    «Idiot», sagte Maria und lachte, und ohne dass ich mit ihrem Lachen irgendetwas verband, kamen mir auf einmal ihre Worte vom Morgen in den Sinn. Die ganze Fahrt über hatte ich nicht mehr daran gedacht, jetzt aber lagen sie mir wie aufgetaut vor den Füßen. Auch dann noch, als Maria nackt und ohne Perücke vor mir stand, knochiger, als ich sie mir vorgestellt hatte, die Brüste ein wenig ausgezehrt, quer über den Unterbauch eine lange Narbe wie von einem Kaiserschnitt. Maria hob die Arme und hielt sie ein, zwei Sekunden waagrecht zur Seite ausgestreckt, dann ließ sie sie langsam zurück zum Körper sinken und begann sich wieder anzuziehen.
    «Jetzt», sagte sie, «hast du das auch gesehen.»
    Ich nickte oder schüttelte den Kopf oder tat beides zur gleichen Zeit. Allmählich ging mir ein wenig der Überblick verloren, was etwas zu bedeuten hatte und was nicht und was das eine letztlich von dem anderen unterschied. Maria streifte ihr Paillettenkleid über und stieg in ihre Konzertschuhe und küsste mich schließlich auf den Mund.
    «Ich weiß», sagte sie, «ich überfordere dich ein bisschen, aber sonst hättest du ja auch zu Hause bleiben können.»
    Ihren Mantel über dem Arm ging sie zur Tür und öffnete sie. Der Wind, der bereits unsere Fahrt zurück nach Bingen begleitet hatte, war stärker geworden und fegte ein paar Laubblätter vom Parkplatz ins Wageninnere, «bitte komm heute nicht», sagte Maria und wandte sich noch einmal zu mir um, «du wärst nur enttäuscht», dann ging sie hinaus und schloss die Tür.
    Ich drehte mich zum Fenster und sah ihr nach, sah, wie sie sich schräg gegen den Wind lehnte und dabei ihre Perücke mit einer Hand festhielt, und als sie schließlich im Haus verschwand, legte ich mich hin und dachte an meinen Vater.
    Die ganze Fahrt über waren Maria und ich ausgelassen gewesen wie Kinder nach der Bescherung, und vielleicht waren wir genau das. Zwei Mal fuhren wir von der Autobahn ab, um es uns gutgehen zu lassen, einmal zum Mittagessen und einmal, um Kaffee zu trinken, und obwohl wir eigentlich keinen Hunger mehr hatten, aßen wir Cremetorte mit einer extra Portion Sahne dazu. Später tastete ich unter dem Tisch mit dem Knie nach Marias Beinen, und als ich sie gefunden hatte, klemmte sie mich ein und ließ mich erst wieder los, nachdem sie bei der Bedienung noch zwei Obstwasser bestellt und um die Rechnung gebeten hatte.
    «Wir hätten es auch wieder so versuchen können», sagte ich leise und ein wenig zu ihr hinübergebeugt, aber Maria wollte davon nichts wissen.
    «So einen Tag darf man sich nicht verderben. Außerdem steht das Auto schlecht, und einen Grund gibt es auch nicht.»
    «Irgendeinen gibt es immer», erwiderte ich, aber wie die Bedienung im Café Hornstein ließ mir auch Maria meinen Spruch nicht durchgehen.
    «Ein Grund ist ein Grund, und ohne Grund ist es nur eine schlechte Idee.»
    Sie zahlte, und kurze Zeit später waren wir zurück im Wagen und warteten darauf, dass er ansprang. Immer wieder drehte Maria den Schlüssel im Schloss, und als der Motor beim siebten oder achten Versuch noch immer nicht startete, lachte sie. Ein wenig höhnisch, wie mir schien, ein Lachen, das mich kränkte, und als der Wagen bei einem der nächsten Versuche schließlich doch ansprang,

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