Was - Waere - Wenn
je tiefer ich mich beuge, desto schlechter
wird meine Laune. Wer hat denn dieses scheußliche Sammelsurium an
Jazz-Samplern, Easy-Listening und Randy-Crawford-Alben zusammengestellt?
Offensichtlich besitzen wir ausschließlich Musik, die man prima im Hintergrund
einer Cocktailbar vor sich hinplätschern lassen kann.
Aber wo sind all die CD s, die ich so
gern höre? Wo ist meine Tori-Amos-Sammlung? Wo sind Alan, Parsons und Project?
Robbie Williams? Blur? David Bowie? Kate Bush? Kraftlos lasse ich mich auf den
Boden sinken. »It feels so empty without me« beschwert sich Eminem in meinem
Kopf. Was ist denn überhaupt noch so wie früher? Ich werde es herausfinden.
Ich spiele so lange am Tuner herum, bis ich Delta-Radio gefunden
habe und drehe so laut auf, daß Evanescence mit »Bring me to life« zwar nicht
das Leben, aber die Wände zum Wackeln bringt.
Dann geht meine Suche nach dem Ich los. Erst mal nach oben, meinen
Kleiderschrank durchsehen. Wie befürchtet ist meine Garderobe teuer, aber
langweilig. Die Designer stapeln sich in den Regalen, ich besitze mehr Schuhe
als in meinem alten Leben Socken, aber so richtig gefallen tut mir nichts.
Jetzt wird mir auch klar, warum ich bei New Life diesen bescheuerten Overall
anziehen mußte. Weil ich meine alten Klamotten ja mit wegeliminiert habe, und
sonst hätte ich nackt nach Hause gehen müssen.
Mein Leben steht kopf, denke ich, während ich die wenigen Sachen
aussortiere, mit denen ich mich anfreunden kann. Nach meinem Schlampen-T-Shirt
muß ich wohl gar nicht suchen, das hat sich zusammen mit meiner düsteren
Vergangenheit in Wohlgefallen aufgelöst. Macht nichts. Es gibt ja Copy-Shops.
Einen kenne ich sogar schon. Dabei fällt mir Tim wieder ein. Den werde ich als
nächstes suchen. Wo ist das Telefonbuch?
Ich suche alles ab, Moritz’ Büro, die kleine Anrichte im Flur, auf
der ebenfalls ein Telefon steht (normale Menschen würden ihre Telefonbücher
jedenfalls in der Nähe des Telefons aufbewahren), sämtliche Schränke, sogar in
der Küche gucke ich in alle Schubladen, öffne jeden Hängeschrank. Langsam, aber
sicher kenne ich mich in meinem eigenen Haushalt ganz gut aus, nur die
Telefonbücher bleiben verschwunden.
Anruf bei der Auskunft. Tim Kramer gibt es nicht. Als ich die Dame am
anderen Ende der Leitung darum bitte, mir alle Kramers zu geben, lacht sie und
legt dann auf. Blöde Kuh. Die Suche geht weiter.
Im Wohnzimmer entdecke ich mehrere gutsortierte Fotoalben, in denen
man sehr schön die Entwicklung von Moritz und mir verfolgen kann. Eins ist
sogar dabei, in das jemand mit Buntstiften kleine Herzchen und Kußmünder neben
die Fotos gemalt hat. Ob ich das war? Wäre eigentlich untypisch für mich, in
meinem früheren Zuhause flogen meine Fotos durcheinander in einem großen
Schuhkarton herum, der unter meinem Bett stand.
Neugierig blättere ich die Alben durch, betrachte Fotos, für die ich
nie posiert habe und die es trotzdem gibt. Moritz und ich in Südafrika. Heike,
Isabell, Babette und ich auf einer Gartenparty. Julie, David und ich auf dem
Hamburger Dom. Moritz, seine Eltern und ich zusammen auf einem Segelboot. Ein
kalter Schauer läuft mir über den Rücken. Unheimlich, diese Fotos. Ich stelle
die Alben zurück ins Regal. Dafür bin ich noch nicht bereit, vielleicht in ein
paar Wochen.
Wieder hoch ins Schlafzimmer. In der Kleiderkammer entdecke ich auf
dem Schrank einen großen Karton mit Oster- und Weihnachtsschmuck. Lächelnd
betrachte ich die kleinen, handgemalten Krippenfiguren. Früher habe ich immer
gedacht: Wenn du mal deinen ersten eigenen Weihnachtsbaum hast oder zu Ostern
einen Bund Weidenkätzchen mit Eiern schmückst und aufstellst – dann bist du
wirklich gesettled.
Näher als an einen Adventskalender mit Überraschungseiern ist die
alte Charly natürlich nie an einen Weihnachtsbaum gekommen. Wo auch? Meine Bude
war ja schon zugestellt, wenn sich da außer mir noch eine zweite Person
aufgehalten hat. Jetzt sitze ich über diesen Karton gebeugt und stelle mir vor,
wie Moritz Anfang Dezember eine riesige Tanne im Wohnzimmer aufstellt, die ich
dann mit all diesen Sachen schmücke. Unsere Freunde und Familien kommen zu
Besuch, es gibt selbstgemachten Glühwein und Kuchen und abends ein leckeres
Gänseessen.
Während ich den Karton auf den Schrank zurückstelle stoße ich auf
etwas, wonach ich bisher noch gar nicht gesucht habe: den Safe. Etwas versteckt
hinter einer zusammengefalteten Luftmatratze liegt seine graue, kleine
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